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Politik

Warum China keinen neuen INF-Vertrag will

5. Februar 2019

Das Ende des wichtigen Rüstungskontrollvertrags zwischen den USA und Russland ist besiegelt. Jetzt richten sich viele Augen auf ein Land, das bisher gar nicht am Vertrag beteiligt war: China.

China Kurzstreckenrakete DF-16
Chinas Kurzstreckenrakete DF-16, hier bei einer Militärparade in Peking 2015Bild: picture-alliance/dpa/G. Jinfh

Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte. Dieses Sprichwort mag auf viele Situationen passen, aber den Ausstieg der beiden Vertragspartner USA und Russland aus dem INF-Vertrag findet China keinesfalls erfreulich. Der Schritt sei "bedauerlich", heißt es in einer offiziellen Mitteilung des Außenministeriums. "China ist gegen den Ausstieg der USA und hält die USA und Russland dazu an, Differenzen durch konstruktiven Dialog gründlich beizulegen." Selbst möchte China jedoch an der Seitenlinie bleiben und stemmt sich gegen eine Multilateralisierung des Vertrages, also eine Erweiterung um neue Vertragspartner wie die Volksrepublik. Genau das wünscht sich US-Präsident Donald Trump, aber Verhandlungen darüber sind eher unwahrscheinlich.

China rüstete sich im Schatten des Vertrages

Im INF-Vertrag verpflichteten sich die USA und Russland, all ihre vom Boden startenden Flugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5000 Kilometern zu zerstören und keine weitere Forschung in dem Bereich zu betreiben. China hingegen hat in den letzten 30 Jahren die eigenen Waffen dieser Gattung stark weiter entwickelt. Die regionale Sicherheitsarchitektur baut zu großen Teilen auf genau diesen Raketen auf. Das US-Verteidigungsministerium schätzt, dass die chinesische Volksbefreiungsarmee allein etwa 1000-1200 Kurzstreckenraketen mit bis zu 1000 Kilometern Reichweite besitzt - sie machen den Großteil der chinesischen Raketen aus und würden unter den INF-Vertrag fallen.

Im südchinesischen Meer bringen China und die USA (hier Flugzeugträger USS Carl Vinson) Militär in Stellung, um ihre Einflusssphäre zu schützenBild: Getty Images/AFP/L. Pham

"Sie dienen als Schutzglocke über dem ost- und südchinesischen Meer, um amerikanische Flottenträgergruppen abzuhalten", sagt Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). "Die USA geben ihrerseits Schutzgarantien für Staaten wie Japan, Südkorea oder Taiwan."

Chinas Nachteil wäre Amerikas Vorteil

In der Region lässt sich leicht ablesen, warum China kein Interesse hat, sich dem INF-Vertrag anzuschließen. "Es würde bedeuten, dass China die Masse seiner Raketen aufgeben müsste. Die USA müssten überhaupt nichts aufgeben, weil sie sich auf see- und luftgestützte Waffen verlassen", sagte Richter der DW. Das Besondere am INF-Vertrag war, dass er - im Gegensatz etwa zum Atomwaffensperrvertrag - die Waffengattung komplett bis auf die letzte Rakete verbietet. Sollten die USA und Russland versuchen, gemeinsam mit China einen neuen Vertrag auszuhandeln, könnte China eine Obergrenze, ein sogenanntes Plafond, einfordern, das über Null läge. "Das würde bedeuten, dass auch Russland Obergrenzen hätte, also Raketen stationieren darf", sagte Richter, "und das wäre eine schlechte Nachricht für Europa."

Corpus delicti: Ein russischer Marschflugkörper vom Typ 9M729, in dem die USA eine Verletzung des INF-Vertrages sehenBild: picture-alliance/dpa/P. Golovkin

Auch Ulrich Kühn vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg sieht derzeit überhaupt keinen Anreiz, weshalb China einem INF-Nachfolgevertrag beitreten und all seine Raketen mit entsprechender Reichweite zerstören sollte. "Das deutet schon mal darauf hin, dass vielleicht ein möglicher Vertrag, sollte er irgendwann mal zustande kommen, eben kein 'Null'-Vertrag mehr wäre, das heißt, keine Abrüstung aller Mittelstreckenraketen, sondern nur noch auf ein bestimmtes Plafond", sagte Kühn der DW.

Sind diese Raketen heute noch kriegsentscheidend?

Als der INF-Vertrag 1987 besiegelt wurde, kam Mittelstreckenraketen im bipolaren Konflikt des Kalten Krieges eine besondere Rolle zu: Mit ihnen hätten beide Seiten ihre jeweiligen Schützlinge in Europa treffen können, aber nicht die verfeindete Supermacht selbst. Heute haben beide Länder, auch wegen des Verbots, andere Raketen und Marschflugkörper entwickelt, die von U-Booten oder Flugzeugen aus gestartet werden - ganz zu schweigen von Drohnen. Der militärische Mehrwert der vom INF-Vertrag abgedeckten bodengestützten Waffen sei im Vergleich zu see- oder luftgestützten Waffen insgesamt "schwer zu erkennen", sagt SWP-Sicherheitsexperte Richter, unter Umständen seien sie etwas billiger in der Produktion und vielleicht reaktionsschneller, wenn sie am richtigen Ort stehen.

"Allerdings sollte man deswegen nicht den Fehler machen zu glauben, der Vertrag sei deswegen nicht mehr so viel wert", sagte Richter der DW. "Er hat eine hohe politische Bedeutung. Er hat immerhin eine ganze Klasse von Trägerwaffen eliminiert und sie jetzt wieder zuzulassen ist natürlich der völlig falsche Weg."

Der INF-Vertrag stand - damals bahnbrechend - für die Abschaffung einer ganzen Waffengattung: hier US-amerikansische Pershing-II-Raketen beim Abtransport 1988Bild: picture-alliance/dpa/H. Melchert

Kein quantitatives, sondern qualitatives Wettrüsten

Dennoch stehen die USA und Russland nun kurz davor: Die Kündigung der Amerikaner und postwendend auch der Russen setzt den Vertrag nach einer sechsmonatigen Kündigungsfrist im August endgültig außer Kraft. Beide bisherigen Vertragspartner, im Westen wie im Osten, haben aus Sicht des Hamburger Friedensforschers Ulrich Kühn kein wirkliches Interesse mehr an diesem Vertrag: "Russland fühlt sich von der Nato bedroht. Russland fühlt sich auch von den wachsenden militärischen Kapazitäten Chinas bedroht - auch wenn es das offiziell nicht sagt."

Kühn befürchtet nun ein neues Wettrüsten, wenn dieses auch quantitativ kaum an den Kalten Krieg mit seinen Zehntausenden Sprengköpfen heranreichen dürfte. "Aber wir werden ein qualitatives Wettrüsten sehen. Das entwickelt sich schon seit mehreren Jahren", sagt Kühn. "Das heißt bessere Waffen, schnellere Waffen und Raketensysteme und natürlich damit auch eine Herabsetzung der Krisenstabilität."

Welche Auswege bleiben noch?

Nach dem Ende des INF-Vertrages bleibt nur noch ein wichtiges Vertragswerk zwischen den beiden ehemaligen Blockmächten erhalten: der "New START"-Vertrag, in dem beide Länder die Zahl ihrer strategischen Massenvernichtungswaffen begrenzen. Allerdings endet seine Laufzeit 2021, und weil in den USA seit der russischen Einmischung im Wahlkampf 2016 das Vertrauen in Russland stark gesunken ist, befürchtet Kühn, dass die Chancen für eine Verlängerung des Vertrages "sehr schlecht" stehen.

"Wir sehen in den letzten Jahren, dass diese Verträge, die so wichtig waren für die Überwindung der Konfrontation im Kalten Krieg, nacheinander drohen, auseinanderzubrechen", sagt auch SWP-Experte Richter. "Dann stünden wir im Jahr 2021 wieder dort wo wir in den Sechziger-Jahren standen, nämlich ohne rechtsverbindliche Begrenzungen von Nuklearwaffen."

Der INF-Vertrag ist im Eimer - genau wie diese Pappmaché-Raketen bei einer Protestaktion in BerlinBild: picture-alliance/dpa/P. Zinken

Immerhin existiert seit 2002 der sogenannte "Haager Verhaltenskodex gegen die Proliferation ballistischer Raketen". Dabei handelt es sich nur um eine politische Übereinkunft, die also nicht rechtsverbindlich ist, in der insgesamt 139 Staaten die Verbreitung bestimmter Raketen eindämmen wollen und einander Transparenz verordnen. Allerdings fehlen wichtige Staaten wie China und Indien - und es geht darin nur um ballistische Raketen, also solche, die nur in der Startphase angetrieben werden und später in einer Parabelbahn auf ihr Ziel treffen. Viele Mittel- und nahezu alle Langstreckenraketen funktionieren so. "Es wäre gut, wenn es gelingen würde, diese Schraube etwas anzuziehen, also das Transparenzregime zumindest einigermaßen verbindlich zu machen und Marschflugkörper mit einzubeziehen", sagte Richter.

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