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Warum das Moers Festival Kultcharakter hat

Anastassia Boutsko
20. Mai 2024

Längst hat es sich zum Mekka für Freunde experimenteller Musik entwickelt. Und auch bei seiner seine 53. Ausgabe zeigte sich das Moers Festival offen für neue Klänge anderer Kulturen - von Japan bis Namibia.

Musiker auf der Hauptbühne des Festivals
Großer Andrang beim Moers Festival Bild: Dennis Hoeren/Moers Festival

Sollte man unter über 500 Musikfestivals in Deutschland genreübergreifend die zehn kultigsten benennen, wäre es bestimmt dabei - das viertägige Musikfest, das sich selbst etwas sperrig "Jazzfestival für Musik/Besinnung/Politik/Superheldinnen und Zusammensein!" nennt.

Das Moers Festival würde in jener imaginären Top-Ten-Liste irgendwo zwischen den Donaueschinger Musiktagen, dem Forum für neue Musik schlechthin, Wacken Open Air, dem jährlichem Treff für Metall- und Hard Rock-Fan, und den Bayreuther Festspielen landen.

Eine der Superheldinnen von Moers: die US- amerikanische Jazzmusikerin Amirtha KidambiBild: Klaus Dieker/Moers Festival

Und so unterschiedlich die Musikrichtungen und Geschmäcker sind, haben all diese Kult-Festivals etwas gemeinsam: Sie strahlen weit über Deutschland hinaus und ziehen ein treues Publikum an, für das Musik wesentlich mehr als Unterhaltung ist - sie ist ein Bekenntnis, ein Teil ihrer Weltanschauung und ihres Wertesystems.

"Jedes Mal anders" als Markenzeichen

Ulrike war 13, als sie zum ersten Mal mit ihren Eltern nach Moers kam. Da die Lehrerin aus Dortmund frisch pensioniert ist, soviel verrät sie über ihr Alter, muss sie schon bei einer der ersten Ausgaben des seit 1972 in Moers stattfindenden Festivals dabei gewesen sein.

Stars des diesjährigen Festivals: Künstler aus NamibiaBild: Kristina Zalesskaya/Moers Festival

Seitdem ist sie fast jedes Jahr angereist. Früher mit ihren Kindern, in den letzten Jahren allein. In dem pittoresken Städtchen hat sich optisch kaum etwas geändert. Da ist der Marktplatz mit dem Wirtshaus und dem ehemaligen Grafen-Schloss, heute Museum. Da sind schräg gegenüber die beiden Backstein-Kirchen, katholisch und evangelisch, die beide Konzerte des Jazzfestes willkommen heißen. Am Anfang war das nicht der Fall. Auch die Szenekneipe "Die Röhre", wo in den späten 1960er-Jahren die Idee zum "New Jazz Festival" ausgebrütet wurde, ist natürlich weiterhin gut besucht.

Hat sich also nichts geändert? "Doch!", meint Ulrike. Früher war Moers ein Treffpunkt der Free-Jazzer - und zwar ausschließlich. Mittlerweile ist die Palette viel breiter. Die Japaner sind dazu gekommen, die koreanischen Musiker, in den letzten Jahren auch Musiker aus Afrika - und zwar nicht nur Jazzer. Diesmal sind Angehörige des Stammes San aus Namibia dabei: Volkssänger, wenn man so will, die ihre Musikkultur, eine der ältesten der Welt, auch heute noch leben. In Moers wurden sie von Improvisationskünstlern aus aller Welt begleitet.

Keine "Postkarten-Worldmusic" und kein "Rotwein-Jazz"

Bei der Gründung vor über 50 Jahren kristallisierte sich die politische Agenda des Festivals heraus: in der elektrisierten Atmosphäre der 68er-Bewegung positionierte sich die freie Musikszene "gegen alles Schlechte und für alles Gute": also gegen Kapitalismus und Rassismus und für Freiheit und Gerechtigkeit in allen sozialen und gesellschaftlichen Ausprägungen.

Generell hat sich an dieser Einstellung nichts geändert. Im Programmheft und am Rande des Moers-Festivals ist vom "Postkarten-Worldmusic-Scheiße" und "Rotwein-Jazz-Mainstream" zu lesen und zu hören - Undingen, von denen man sich natürlich entschlossen distanziert. Auch die "grauen Frauen von den deutschen Botschaften" weltweit, vor allem aber in afrikanischen Ländern, die wohl alles tun, um den Kulturaustausch zu verhindern (indem sie den Künstlern die Visa verweigern) kriegen ihr Fett weg im Programmheft und in den Interviews, die Festspielleiter und Musiker Tim Isfort gibt. Und natürlich schickte man ein "piano-Mobil" des Festivals zur  Demo der rechtpopulstischen Partei AFD, die an diesem Wochenende in Moers stattfand.

Nächste Stationen: Afrika

Den Rechtspopulisten zum Trotz setzt man nun seit drei Jahren regelmäßig ein afrikanisches Land konsequent in den Mittelpunkt des Festivals, diesmal die ehemalige deutsche Kolonie Namibia - und bei 54 Ländern des Kontinents reicht es programmatisch für die nächsten fünf Jahrzehnte. Die Moers-Geografie erstreckt sich diesmal somit von Windhuk bis Tokio, insgesamt sind Musiker aus über 20 Ländern vertreten.

Brückenbauerin: Shishani Vranckx an der Gitarre Bild: Kurt Rade/Moers Festival

"Was ich ganz schlimm finde, ist, wenn ein Konzert nur ein Konzert ist. Wenn man ein Programmheft nimmt und dann weiß der Deutsche, was er hat", sagt Festspielchef Tim Isfort im DW-Gespräch. "Ein Fest muss mutig sein und auch wagemutig. Und es darf auch scheitern - hier in Moers dürfen Sachen passieren, die vielleicht nicht perfekt laufen."

Der Wagemut bei den 40 Hauptkonzerten und zahlreichen Neben-Events des Festivals kommt an beim Publikum. Etwa wenn Shishani Vranckx, Tochter eines belgischen Vaters und einer namibischen Mutter und diplomierte Anthropologin, Sängerinnen und Sänger des Jul'hoansi-Stammes aus Namibia begleitet. Oder wenn der Posaunist Conny Bauer, einst eine Legende der ostdeutschen Jazzszene, mit der in Berlin lebenden japanischen Pianistin Rieko Okuda aufspielt.

Conny Bauer und Rieko Okuda traten gemeinsam auf Bild: Inga Klamert/Moers Festival

"Ich war 1973 zum ersten Mal in Moers dabei", erzählt der 80-jährige Musiker der DW. "Ich glaube, das war überhaupt der erste Auftritt für uns DDR-Musiker im Westen." Im Gegensatz zu vielen Konzertbesuchern und auch den Festivalmachern bedient sich Bauer gerne des guten alten Wortes "Jazz" - es kommt ja nicht auf den Begriff als solchen an, sondern auf das Gefühl und die Art, wie man Musik macht. "Jedes Konzert ist für mich anders. Ich weiß nie, wie und was ich heute spielen werde - es hängt von anderen Musikern ab, von der Stimmung, dem Ort und natürlich vom Publikum im Saal."

Und warum kommt Ulrike immer wieder nach Moers? "Man trifft hier interessante Menschen, damals wie heute", sagt sie ohne zu zögern. "Menschen, die man sonst nie kennenlernen würde. Und man ist jedes Jahr aufs Neue überrascht und bereichert."

Nur zelten im Park will sie nicht mehr - das überlässt sie nun dem Nachwuchs-Publikum. Es regnet dieses Jahr ständig hier am Niederrhein.

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