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Warum das Waldsterben in Deutschland gut sein könnte

Kiyo Dörrer
13. Oktober 2024

Deutschland verliert seine Wälder - und zwar rasant. Allein im Mittelharz sind wegen Schädlingen und Trockenheit über 90 Prozent aller Fichten schon tot oder sterben ab. Das könnte mittelfristig aber etwas Gutes haben.

Tote Fichtenstämme stehen auf einer großen Fläche im deutschen Mittelgebirge Harz
Mehr als 90 Prozent der Fichten im Harz sind tot oder sterben derzeit abBild: Future Image/Imago

Eine Fahrt durch den Harz in Mitteldeutschland fühlt sich an wie eine Reise durch eine postapokalyptische Landschaft. Reihenweise graue, trockene, nackte Bäume ragen wie ein Meer aus dünnen Nägeln in den Himmel. Der jahrzehntealte Wald hier ist innerhalb weniger Jahre zu einem Baumfriedhof geworden. "Nirgendwo sonst in Mitteleuropa kann man die Klimakrise so erleben wie hier im Harz", sagt Roland Pietsch, Leiter des Nationalparks Harz.

Nicht nur im Harz - die Wälder in ganz Deutschland leiden unter einer Kombination aus Dürren, Stürmen und invasiven Schädlingen, heißt es im jüngsten Bericht der Bundesregierung über den Zustand der deutschen Wälder.

Ähnlich sieht es in Polen, Tschechien und in Skandinavien aus. Und doch halten manche Fachleute den Verlust von Nadelwäldern langfristig für positiv.

Fichten-Monokulturen: ein gefährdetes Erbe

Um zu verstehen, warum der Verlust von Wäldern in manchen Fällen eine gute Sache sein kann, müssen wir in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurückspulen. Nach der Niederlage Deutschlands ordneten die Alliierten Mitte der 1940er Jahre an, dass das Land Reparationszahlungen leisten muss - teilweise in Form von Holz. Schätzungen zufolge wurden dafür bis zu zehn Prozent des gesamten deutschen Waldes abgeholzt.

Um dies auszugleichen, pflanzten die deutschen Förster vor allem eine Baumart: die Fichte. Fichten wachsen schnell und gerade, was sie für die Holzproduktion und als Bauholz ideal macht. Bis heute wird der größte Teil dieser Wälder für die Holzproduktion genutzt, wobei die Forstwirtschaft ein bis zwei Prozent des deutschen Bruttosozialproduktes (BIP) ausmacht.

Fichten zählen nach wie vor zu den am häufigsten vorkommenden Baumarten in Deutschland. Diese Monokulturwälder sind jedoch nicht sehr gastfreundlich gegenüber anderen Pflanzen und Tieren - sie weisen eine deutlich geringere biologische Vielfalt auf als Mischwälder mit unterschiedlichen Baumarten. Und wie alle Monokulturen sind diese Nadelwälder sehr anfällig für Stressfaktoren, die im menschengemachten Klimawandel zunehmen, wie Trockenheit.

Welche Bäume können im Klimawandel bestehen? Das wird in diesem Experiment in Thüringen erforschtBild: Marco Borowski/DW

Dürreperioden, die weltweit immer häufiger werden, machen den Fichten besonders zu schaffen. Denn die Fichten wurden oft in Gebieten angepflanzt, die eigentlich zu trocken für sie sind. In der Natur kommt die Baumart sonst vor allem in höheren Regionen vor, in denen es gewöhnlich öfter regnet.

Ihr Wurzelsystem ist sehr flach, und das bedeutet, dass sie keinen Zugang zu tiefergelegenen Wasservorräten haben.

Der Borkenkäfer fällt über geschwächte Bäume her

Was die Fichten schwächt, stärkt gleichzeitig eine andere Spezies: den Borkenkäfer. Das winzige Insekt ist nur ein paar Millimeter groß, aber es frisst sich unaufhörlich durch einen Großteil der deutschen und europäischen Wälder. Der Käfer bohrt Löcher in die Bäume und setzt Pheromone frei, um eine Partnerin ins Innere zu locken. Dort pflanzen sich die Käfer fort, das Weibchen legt ihre Eier in die Gänge unter der Rinde.

"Ein Paar kann in einem Jahr bis zu 100.000 Nachkommen produzieren. Sie verbreiten sich wie ein Lauffeuer", sagt Fanny Hurtig, Försterin im mitteldeutschen Thüringer Wald - und zeigt auf das zerfressene Innere einer einer Fichte, die vorzeitig abgeholzt werden musste. Das östliche Thüringen, drei Stunden südlich des Nationalparks Harz, ist eine der Regionen, in denen sich der Borkenkäfer am schnellsten ausbreitet.

Ein gesunder Baum produziert normalerweise Baumharz, um Löcher abzudichten und sich vor den Käfern zu schützen. Doch durstige, schwache Bäume können das nicht. Die Käfer zerfressen in der Folge die Schichten des Baumstamms, die Nährstoffe und Wasser transportieren - und die Bäume sterben an Durst und Unterernährung.

Kleines Insekt - großer Schaden: Ein Borkenkäfer und zwei Larven in den Gängen unter der Rinde einer FichteBild: Groder/Eibner Europa/Imago

Wie die Forstwirtschaft zukunftssicher werden kann

Aber der Borkenkäfer ist nur ein Puzzleteil von mehreren. Zwar darf im Schutzgebiet eines Nationalparks kein Holz gewonnen werden - aber gerade einmal drei Prozent der Wälder in Deutschland sind auf diese Weise geschützt.

Den Rest nutzen öffentliche oder private Förster – meist um Holz zu produzieren. Und mit der steigenden Nachfrage nach nachhaltigen Baumaterialien wird die Holzproduktion voraussichtlich zunehmen.

In Thüringen sind Förster und Försterinnen wie Hurtig gezwungen, eine große Anzahl von Bäumen vorzeitig zu fällen. Denn sobald die Fichten befallen sind, werden sie abgeholzt, um die Ausbreitung des Borkenkäfers zu stoppen. Es tue ihr weh, so viele Bäume vorzeitig fällen zu müssen, sagt Hurtig. "Mein Herz schmerzt jeden Tag, wenn ich das sehe."

Dennoch sehen Hurtig und andere darin auch eine Chance. "Es gibt uns die Möglichkeit, diese Flächen strukturierter und mit ganz anderen Baumarten aufzubauen", sagt Hurtig über das, was derzeit im kommerziell genutzten Thüringer Wald geschieht. Der Plan: einen nachhaltigeren Mischwald mit einer Vielzahl von Bäumen zu schaffen und künftiges Waldsterben zu verhindern.

Die neuen Baumarten müssen mit wenig Wasser auskommen, haben im Idealfall ein tieferes Wurzelwerk, um Dürren und Stürme besser zu überstehen, und sie dürfen nicht zu anfällig für Schädlinge sein.

Als gute Kandidaten werden einheimische Bäume wie Buche, Eiche und Platane gehandelt, in Betracht kommt außerdem die nordamerikanische Douglasie. Wenn sich allerdings der Klimawandel noch beschleunigt, könnten auch Bäume aus wärmeren Lebensräumen wie die Türkische Tanne oder die Orientalische Buche eingeführt werden.

Auf dem Weg zu einem widerstandsfähigeren Wald

In immer mehr deutschen Wirtschaftswäldern und Nationalparks geht man dazu über, Mischwälder zu schaffen. Sie sind nicht nur den ursprünglichen Ökosystemen des heimischen Waldes ähnlich, sondern auch widerstandsfähiger gegen Schädlinge und ein wärmeres Klima.

Organisationen wie Forest Europe, die sich für den Schutz der europäischen Wälder einsetzen, raten Ländern mit ähnlichen Problemen, beispielsweise Frankreich, Tschechien oder Belgien, das Gleiche zu tun.

Bis sich die Vorteile aus der Umstrukturierung der Wälder in vollem Umfang bemerkbar machen werden, dürfte es zwar noch einige Zeit dauern. Vor dem Hintergrund der Klimakrise aber sei der Wandel im Wald eine gute Sache, sagt Nationalparksleiter Roland Pietsch: "Gut für die Widerstandsfähigkeit und gut für die Artenvielfalt."

Redaktion: Jennifer Collins

Adaption aus dem Englischen: Jeannette Cwienk

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