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Warum der Abwurf von Hilfsgütern über Gaza kritisiert wird

29. Juli 2025

Angesichts der Hungersnot in Gaza und der ungenügenden Verteilung von Hilfsgütern planen Deutschland und andere Länder eine neue Luftbrücke. Hilfsorganisationen geißeln das als Zynismus, Symbolpolitik und Ineffizienz.

Aus einem Flugzeug abgeworfene Hilfspakete schweben über dem Gazastreifen
Airdrops über dem Gazastreifen: Wo genau sie auf dem Boden aufkommen, können die Piloten nicht steuernBild: Hatem Khaled/REUTERS

Die aktuelle Hungersnot in Gaza sei mit nichts in diesem Jahrhundert zu vergleichen, warnte Ross Smith, Nothilfe-Direktor des UN-Welternährungsprogramms (WFP). "Das erinnert an frühere Katastrophen in Äthiopien oder Biafra im letzten Jahrhundert", sagte Smith in Genf. "Das ist keine Warnung, sondern ein Aufruf, zu handeln".

Im Gazastreifen entwickle sich das "Worst-Case-Szenario einer Hungersnot", lautet die Überschrift des neuesten IPC-Hungermonitors. Die Initiative beobachtet in Zusammenarbeit mit UN-Organisationen die Ernährungssituation in Gaza. In dem Bericht heißt es, in Gaza-Stadt sei die Schwelle zu akuter Mangelernährung überschritten - und in allen anderen Zonen des Küstenstreifens gar die Schwelle zur Hungersnot. Ein Großteil der mehr als zwei Millionen Einwohner des Gazastreifens lebt inzwischen auf engstem Raum in Flüchtlingslagern, weil die israelische Armee große Teile des 365 Quadratkilometer großen Gebiets zur militärischen Sperrzone erklärt hat.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte zuletzt erklärt, es gebe "keine Hungersnot im Gazastreifen". Israel verwehrt Journalisten seit Kriegsbeginn fast vollständig den Zugang zu dem Gebiet, eine unabhängige Bewertung der Lage ist daher nicht möglich.

"Zynismus", "Symbolpolitik" und "Geldverschwendung"

Seit dem Wochenende bahnt sich ein Weg an, wie internationale Akteure die akute Not lindern wollen: Am Sonntag warfen Militärflugzeuge aus Jordanien und den Vereinigten Arabischen Emiraten 25 Tonnen Hilfsgüter über dem Küstenstreifen ab. Auch Deutschland und Frankreich haben eigene sogenannte Airdrop-Missionen angekündigt. "Diese Arbeit mag humanitär nur einen kleinen Beitrag leisten, aber sie ist ein wichtiges Signal: Wir sind da, wir sind in der Region, wir helfen", sagte Bundeskanzler Friedrich Merz.

Jordanische Soldaten bei einer Airdrop-Mission über dem Gazastreifen am 28. Juli 2025Bild: Jehad Shelbak/REUTERS

Hilfsorganisationen sind fassungslos. "Humanitäre Hilfsgüter aus der Luft abzuwerfen, ist eine sinnlose Initiative, die nach Zynismus riecht", sagte der für die Region zuständige Notfallkoordinator von Ärzte ohne Grenzen, Jean Guy Vataux. Die Berliner Denkfabrik Centre for Humanitarian Action (CHA), sprach von der "unsinnigsten Luftbrücke, die es je gab" sowie von "Symbolpolitik und Geldverschwendung". Denn die Versorgung aus der Luft ist laut CHA-Chef Ralf Südhoff bis zu 35 Mal teurer als Konvois auf dem Landweg.

Airdrops erreichen nicht die Hilfsbedürftigsten

Auch Marvin Fürderer, Nothilfe-Experte bei der Welthungerhilfe, spricht von "symbolträchtigen, ineffektiven Abwürfen". Er schildert im DW-Interview ein ganz grundlegendes Problem: "Die Ladung wird ohne Koordination, ohne festgelegte Abwurfzone, ohne Sicherheitsstrukturen in ein hochriskantes Umfeld abgeworfen." Die Hilfe erreiche häufig nicht die Menschen, die es am dringendsten brauchen - "sondern eher diejenigen, die noch mobil genug sind, um sich durch Trümmer und überfüllte Straßen zu einer solchen Abwurfstelle durchzuschlagen und vor Ort darum zu ringen", so Fürderer.

Hilfslieferungen zu ergattern, ist in Gaza oft mit großer Gefahr verbunden - diese Palästinenser sind im Juni an einer Ausgabestelle Zeugen tödlicher Schüsse gewordenBild: Gislam, Steven/DW

Fast jeden Tag werden Todesfälle rund um die wenigen Verteilzentren der umstrittenen "Gaza Humanitarian Foundation" (GHF) gemeldet. Die Stiftung mit Sitz in den USA ist unter Billigung von deren Präsident Donald Trump seit Mai mit der Verteilung von Hilfsgütern im Gazastreifen betraut, nachdem Israel dem UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA die Arbeit untersagte. Doch der GHF gelang es nicht, für Sicherheit an den Verteilzentren zu sorgen. Dazu kommt, dass das israelische Militär laut UN-Angaben immer wieder Wartende beschießt. Zwischen dem 27. Mai und dem 21. Juli wurden laut UN-Hochkommissariat für Menschenrechte mehr als 1000 Palästinenser beim Versuch, an Hilfsgüter zu gelangen, von israelischen Soldaten getötet.

Versorgung der Menschen nur auf dem Landweg möglich

Hilfsorganisationen fordern eine ungehinderte Passage von Hilfsgütern in den Gazastreifen und die Rückkehr zum alten System: Statt an wenigen Hotspots wurden Lebensmittel bis zum Frühjahr dezentral in rund 600 Ausgabestellen verteilt.

Riad Othman, Nahostreferent bei der Organisation Medico International, sagte bei einer Pressekonferenz in Berlin: "Vor dem 7. Oktober 2023 versorgten 500 bis 600 Lkws pro Tag die Bevölkerung und Wirtschaft Gazas. Der Bedarf wäre heutzutage mit 600 Lkws täglich nicht zu decken, weil in Gaza nicht nur systematisch die essenzielle Infrastruktur und das Gesundheitswesen, sondern auch die Landwirtschaft zerstört worden ist." Eine Lkw-Ladung umfasst typischerweise rund 20 Tonnen Hilfsgüter; neben Nahrungsmitteln häufig auch medizinische Standardprodukte und Trinkwasser.

Am 7. Oktober hatte die Terrororganisation Hamas in einer koordinierten Attacke mehr als 1200 Menschen in Israel getötet und weitere 250 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Israel rief daraufhin das militärische Ziel aus, die Hamas zu zerschlagen, nahm dabei aber auch zehntausende zivile Opfer sowie die weitgehende Zerstörung des Gazastreifens in Kauf. Die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde spricht inzwischen von mehr als 60.000 Toten, darunter mindestens 147 Hungertote.

Nach dem Auslaufen einer Waffenruhe im Frühjahr hatte Israel über 80 Tage sämtliche Lieferungen unterbunden. Seit einigen Tagen legt die Armee tägliche Kampfpausen im Gazastreifen ein und lässt auch wieder mehr Hilfslieferungen auf dem Landweg zu. Netanjahus rechtsextremer Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir kritisierte das als "Lebenserhaltung des Feindes".

Laut den von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörden sind bereits mindestens 147 Bewohner des Gazastreifens verhungert, darunter 88 KinderBild: Jehad Alshrafi/AP Photo/picture alliance

Julia Duchrow, Generalsekretärin Amnesty International in Deutschland, sagte: "Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass Israel Hunger als Kriegswaffe einsetzt." Sie forderte die Bundesregierung dazu auf, keine Rüstungsgüter mehr an Israel zu liefern und den diplomatischen Druck auf die Regierung unter Netanjahu zu erhöhen.

"Konvois könnten binnen Stunden starten"

Die israelische Regierung hat vielen internationalen Nichtregierungsorganisationen den Zutritt zum Gazastreifen verwehrt; auch die Welthungerhilfe kann derzeit nur über lokale Partnerorganisationen helfen. Marvin Fürderer spricht sich für eine dauerhafte Waffenruhe und eine Öffnung der Grenzübergänge für humanitäre Lieferungen aus. Dann könnte die Welthungerhilfe binnen Stunden Güter von Jordanien aus in den Gazastreifen bringen, sagte Fürderer: "Diese Konvois könnten binnen Stunden starten, sobald die politischen Rahmenbedingungen es vor Ort zulassen."

Der Grenzübergang Rafah, den der Gazastreifen mit Ägypten teilt, ist das zentrale Portal für Hilfslieferungen über LandBild: Ahmed Sayed/Anadolu Agency/IMAGO

Für die nun geplanten Airdrops müsste die Logistik hingegen neu geplant werden, was mit neuen Kosten einhergeht. "Es ist ganz interessant, dass man das jetzt erwägt in einer Situation, in der die Bundesregierung das humanitäre Budget um 53 Prozent kürzen will. In so einer Lage Millionen für symbolträchtige, ineffektive Abwürfe auszugeben, ist schwierig", sagte Fürderer.

Die deutsche Luftwaffe hat indes schon Erfahrung mit Airdrops nach Gaza: Im Frühjahr 2024 flogen A400M-Militärtransporter zehn Wochen lang solche Abwurfeinsätze. Die Abschlussbilanz summierte sich auf 315 Tonnen Hilfsgüter. Gemessen an einem humanitären Mindestbedarf von 500 Lkw-Ladungen pro Tag, könnte man damit knapp acht Stunden lang die Bedürfnisse der hungernden Bevölkerung im Gazastreifen decken.

Mitarbeit: Jens Thurau

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