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Deutschland ist für Pflegekräfte kaum attraktiv

27. Juli 2022

2030 werden in Deutschland voraussichtlich eine halbe Million Pflegekräfte fehlen. Fachpersonal aus dem Ausland soll helfen, die Lücke zu schließen. Doch die Bilanz ist bislang ernüchternd.

München | Mexikanerin Nayeli Bautista Hernández | Operationstechnische Assistentin
Die mexikanische Krankenschwester Nayeli Bautista Hernández bei einer Operation in ihrer Münchner KlinikBild: privat

Wenn sich Deutschland eine Pflegekraft aus dem Ausland backen könnte, dann wäre sie wahrscheinlich so wie Nayeli Bautista Hernández. Die 29-jährige Mexikanerin aus Oaxaca wagte vor drei Jahren den Sprung über den großen Teich, kümmerte sich zunächst um ältere Menschen in einem Heim 30 Kilometer weiter nördlich von München und assistiert nun als Krankenschwester bei schwersten Operationen in einem Münchner Krankenhaus. Sie sagt, was viele Pflegerinnen aus dem Ausland direkt unterschreiben würden:

"Deutschland braucht dringend sehr viel Personal im Gesundheitssektor. Durch meine Ausbildung in der Heimat war ich bestens vorbereitet. Aber das Schwierigste hier ist die Sprache."

Bautista Hernández' Arbeitsplatz bildet Deutschlands Realität 2022 in der Pflege ab. Und ist ein Vorgeschmack auf das, was angesichts des dramatischen Personalmangels auch die Zukunft hierzulande sein könnte: die Mexikanerin hat auf ihrer Station neben dem deutschen Fachpersonal auch Kolleginnen und Kollegen aus China, Bosnien und Kroatien.

Wettbewerb um Pflegekräfte wird immer härter

200.000 Pflegekräfte fehlen schon jetzt, und nach Berechnungen des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln wird diese Horrorzahl in den nächsten Jahren auf eine halbe Million klettern. Pfleger und Pflegerinnen aus Vietnam, vom Balkan oder aus Lateinamerika sollen mithelfen, das deutsche Versorgungsproblem zu lösen.

Mittlerweile werden deutsche Kliniken und Altersheime immer kreativer, um das Pflegepersonal aus dem Ausland anzulocken. Die Mexikanerin bekam 2019 Flug, Sprachkurs und Geld für Behördengänge erstattet, plus eine Pauschale von 300 Euro über fünf Monate. Heute steht schon einmal ein Heimflug pro Jahr, ein Fahrrad oder auch ein Laptop auf der Bonusliste. Der Wettbewerb um die Pfleger und Pflegerinnen ist knüppelhart, schließlich bleibt eine vakante Stelle im Schnitt 240 Tage unbesetzt.

Kliniken locken mit unbefristeter Festanstellung 

Borja López de Castro hat diese Entwicklung schon ziemlich früh kommen sehen. Vor zehn Jahren gründete der Spanier die Organisation "Enfermeras Alemania", "Krankenschwestern Deutschland". Was als kleines Projekt neben der Doktorarbeit in Deutschland anfing, entwickelte sich schnell zu einem Full-Time-Job. Auf der Homepage wimmelt es von Stellenanzeigen, López de Castro vermittelt Pflegepersonal an Universitätskliniken in Freiburg, Köln oder Aachen.

Borja López de Castro: "Früher vermittelten wir nur Pflegefachkräfte aus Spanien und Italien, jetzt auch aus Lateinamerika"Bild: Privat

"Was wir gerade beobachten ist, dass die Kliniken sich gegenseitig überbieten, um Personal hierher zu locken, mit außertariflichen Zulagen, einer höheren Einstufung oder auch Zusatzprämien", sagt der Geschäftsführer der Organisation, "und die großen Krankenhäuser können dann auch noch eigene Wohnungen anbieten."

"Enfermeras Alemania" vermittelt auch Pflegerinnen und Pfleger, die schon in Deutschland leben. Nayeli Bautista Hernández kam so an ihre unbefristete Stelle in dem Münchner Krankenhaus, inklusive Unterkunft. Jeden Tag flattern bei der Organisation bis zu 20 Anfragen herein, aus Mexiko, Kolumbien, Argentinien, Chile und Venezuela.

Es gibt Strategien, um Personal zu holen, aber kaum welche, damit es auch bleibt

Was Borja López de Castro den Interessenten immer wieder eintrichtert: Sie müssen Deutsch können, Sprachniveau B2 ist Pflicht. Wer sich durchbeißt, dem winken beste Konditionen im Vergleich zur Heimat, finanzielle Stabilität, oft eine Festanstellung. Doch der Weg dahin ist häufig gepflastert mit Unterforderung und Frustration: "Viele kommen mit 15 Jahren Berufserfahrung auf einer Intensivstation nach Deutschland und können ihre Kompetenzen nicht adäquat einsetzen, bis sie die Sprache beherrschen."

Ukrainische Pflegekräfte helfen in deutschen Krankenhäusern

04:22

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Deutschland hat zwar aus der Not mittlerweile gelernt, Pflegepersonal anzulocken, aber oft noch keinen Plan oder auch kein Personal, um dafür zu sorgen, dass die Menschen sich dann auch integrieren und bleiben. López de Castro fragt häufig nach, wie es den Lateinamerikanern geht, die er vermittelt hat, schreibt ihnen, ruft sie an. Was er immer wieder hört: Probleme werden nicht angesprochen, auch wegen der Sprachbarriere, die Kommunikation hakt, auf beiden Seiten.

"Es ist eine Sache, Personal für Integration zu haben, eine andere Sache ist aber ein Integrationskonzept, das in die Tat umgesetzt wird. Es gibt häufig kein Follow-Up für das Pflegepersonal, das Hauptproblem ist der Mangel an Information und Transparenz über die Arbeitsbedingungen", kritisiert der Geschäftsführer von "Enfermeras Alemania".

Sprache, Bürokratie und Personalschlüssel schrecken ab

Für Christine Vogler sind solche Erfahrungen nichts Neues, sie ist seit stolzen 33 Jahren in der Pflege tätig. Als ausgebildete Krankenschwester, danach als Leiterin einer Berliner Schule im Ausbildungsbereich Pflege sowie als Geschäftsführerin des Berliner Bildungscampus für Gesundheitsberufe. Seit einem Jahr hat sie eine wahre Herkulesaufgabe inne: Sie ist Präsidentin des Deutschen Pflegerates.

Warum zu wenige ausländische Pflegekräfte nach Deutschland kommen? Vogler nimmt kein Blatt vor den Mund: "Deutschland ist kein attraktiver Arbeitsort für Pflegende. Und das spricht sich auch außerhalb Deutschlands herum. Wir haben eine komplizierte Sprache und unzureichende Arbeitsbedingungen, zwar die meisten Krankenhausbetten, aber den schlechtesten Personalschlüssel."

Christine Vogler: "Die Pfleger können nicht die Kompetenzen einsetzen, die sie in ihrer Heimat erworben haben"Bild: Reiner Freese

Christine Vogler hat viele Auszubildende aus den Philippinen oder Vietnam kennengelernt, die nach vier oder fünf Jahren Arbeit in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Weil die Altenpflege schlechter bezahlt ist als der Krankenhausbereich. Weil sie entnervt sind von der deutschen Bürokratie, wo ausländische Pfleger schon mal drei, vier oder sogar fünf Monate auf ihre Berufsurkunde warten müssen. Und weil sie Angehörigen von Patienten nicht die Diagnose mitteilen dürfen, wenn der Arzt schon aus dem Haus ist.

Das Fazit der Präsidenten des Deutschen Pflegerates fällt düster aus: "Die Möglichkeit der Personalgewinnung aus dem Ausland stellt in der Pflege kein dauerhaft tragfähiges Konzept dar. Wir müssen uns auch immer klar sein, dass wir bei einem Aufwand von 100 Prozent, vielleicht 20 bis 25 Prozent Erfolg haben. Außerdem wird es immer schwieriger, Menschen zu finden, da immer mehr Länder in diese Pflegenotstand-Situation kommen."