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Politik

Warum die Deutschen (nicht) wählen

30. August 2019

Bei der Europawahl ging die Wahlbeteiligung nach oben. Dieser Trend könnte sich bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg am 1. September fortsetzen. Und das hat nicht nur mit der AfD zu tun.

Berlin Wahllokal zur Bundestagswahl
Bild: Getty Images/M. Hitij

Jeder Zweite Europäer gab bei der Wahl zum Europäischen Parlament im Mai 2019 seine Stimme ab. Nur jeder Zweite? Immerhin jeder Zweite! Denn 2014 lag die Wahlbeteiligung nur bei 42,6 Prozent. So gesehen war die Resonanz dieses Mal mit 50,6 Prozent erstaunlich gut. Optimisten werten das Ergebnis jedenfalls als großen Erfolg und Sieg für die Demokratie – in Zeiten des Brexits und europaskeptischer Regierungen in Ländern wie Polen und Ungarn.

Auch der allgemeine Rechtsruck könnte mehr Menschen an die Wahlurnen gelockt oder zur Briefwahl animiert haben. Der Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer hält das im Gespräch mit der Deutschen Welle für möglich. Er betont aber: "Es gibt dazu noch keine Untersuchungen." Bei der Europawahl sei außerdem noch ein neues, gesellschaftlich sehr stark diskutiertes Thema dazu gekommen: die Umwelt. Und das habe vermutlich gerade bei jüngeren Leuten sehr dazu beigetragen, die Wahlbeteiligung zu erhöhen. 

Unabhängig von der Europawahl beobachtet der Parteien- und Wahlforscher schon länger eine "generelle Steigerung" der Wahlbeteiligung, besonders bei Bundestagswahlen. Der historische Tiefpunkt wurde 2009 mit 70,8 Prozent erreicht, 2017 lag der Wert deutlich darüber: 76,2 Prozent. Auch bei Landtagswahlen ist ein Aufwärtstrend zu verzeichnen, allerdings nicht republikweit. In Brandenburg, wo am 1. September ein neues Parlament gewählt wird, sackte die Beteiligung von 67 Prozent im Jahr 2009 auf 47,9 Prozent 2014 ab. Auch in Sachsen gab es vor fünf Jahren einen, wenn auch moderaten Rückgang von 52,2 auf 49,1 Prozent. Bei den anstehenden Wahlen in den beiden Bundesländern rechnet Experte Niedermayer aber mit einer Trendumkehr. Weil mehrere Parteien in Umfragen fast gleichauf lägen, wirke das Rennen "sehr offen" und deshalb mobilisierend.

Mal anders gefragt: Warum wählt der Westen anders?

Sowohl in Brandenburg als auch in Sachsen rechnet sich die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) Chancen aus, stärkste Kraft zu werden. Ein Szenario, dass politische Beobachter in Parteien und Medien immer wieder eine Frage stellen lässt: Warum wählt der Osten anders? Dabei kann man die Frage auch umgekehrt stellen: Warum wählt der Westen anders? Niedermayers Erklärung: Im Westen gebe es mehr Parteimitglieder und eine höhere "Organisationskraft" der Parteien. Die geringere Wahlbeteiligung im Osten könnte also auch damit zu erklären zu sein, dass es weniger Gewohnheitswähler als im Westen gibt. Dort scheint die Bereitschaft, trotz Unzufriedenheit mit den Parteien am Wahltag Kompromisse einzugehen, ausgeprägter zu sein. Ostdeutsche hingegen neigen wohl eher dazu, gleich zu Hause zu bleiben. Eindeutige Befunde dafür fehlen allerdings.

Niedermayer verweist in diesem Zusammenhang auch auf "andere Traditionslinien" in Ostdeutschland. Er denkt dabei vor allem an die Rolle der heutigen Linken, die wesentlich aus der ehemaligen DDR-Staatspartei SED hervorgegangen ist und sich im vereinten Deutschland zunächst Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) nannte. In den zwei Jahrzehnten nach der Deutschen Wiedervereinigung erfüllte die mehrmals gehäutete Linke die Rolle der Protestpartei. Diesen Part hat mit dem Beginn des starken Flüchtlingszugs seit 2015 die potentiell fremdenfeindliche AfD übernommen.

Motive für Nichtwähler

Der Wahlforscher sieht aber noch andere Gründe für das Ost-West-Gefälle. So friste die Linke im Westen noch immer ein "schwaches Dasein". Ein uneinheitliches Wahlverhalten habe es aber seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 "schon immer" gegeben. Niedermayer erklärt sich das ganz allgemein und grundsätzlich vor dem Hintergrund der lang andauernden deutschen Teilung mit "unterschiedlichen historischen Gegebenheiten".

Ob eine geringe Wahlbeteiligung Anzeichen für eine Krise der Demokratie ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Niedermayer nennt eine unter Wissenschaftlern ebenfalls anzutreffende Ansicht: dass es "Ausdruck der Zufriedenheit" der Bevölkerung sei. Die dahinter stehende Frage lautet demnach: "Warum sollte man zur Wahl gehen, wenn alles in Ordnung ist?" In dieser Logik wären eher hohe Wahlbeteiligungen Indiz für eine Krise. Weil die Menschen eine andere Politik wollten "und deshalb zur Wahl gehen". Auch gebe es nicht den "Nicht-Wähler", der aufgrund eines bestimmten Motives nicht zur Wahl gehe.

Mehr Resonanz durch Online-Wahlen?

Die im Vergleich zum Bundestag geringere Resonanz bei Landtagswahlen sind für Wahlforscher Niedermayer leicht erklärbar: Die meisten relevanten Themen würden auf Bundesebene entschieden. Als eine wichtige Ausnahme sieht er die in Deutschland maßgeblich von den Bundesländern gestaltete Bildungspolitik. Die sei immer eines der wichtigsten Themen und das werde auch bei den anstehenden Wahlen in Sachsen und Brandenburg der Fall sein.

Oskar Niemayer über (Nicht)wähler

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Höhere Wahlbeteiligungen durch moderne Methoden, insbesondere Online-Abstimmungen, hält Niedermayer durchaus für möglich. Noch warnt er allerdings vor dem Einsatz digitaler Hilfsmittel, weil Wahlen von Hackern gefälscht werden könnten. "Da müsste man bei der Sicherheit noch Einiges tun." Noch skeptischer beurteilt er die in Deutschland immer beliebter gewordene Briefwahl, bei der man schon lange vor dem Wahltag seine Stimme abgeben kann. Aber in der Zwischenzeit könne eine Menge passieren, was zu einer anderen Wahlentscheidung führen müsste. "Doch dann hat man sie ja schon getroffen."

Argumente gegen die Brief-Wahl

Viele Wissenschaftler sehen das zunehmend kritisch, weil es dem Grundsatz der Einheitlichkeit von Wahlen widerspreche. Der lautet, "dass alle wählen sollen mit den gleichen Voraussetzungen". Das aber sei bei einer starken Briefwahl-Quote nicht mehr gegeben, moniert Niedermayer. Die Zahlen scheinen ihm recht zu geben: Bei der Bundestagswahl 2017 stimmten bereits 28,6 Prozent auf dem Postweg ab. Der Anteil hat sich damit im Vergleich zu 1990 verdreifacht.

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland
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