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PolitikNahost

Explosion von Beirut weiter nicht aufgearbeitet

Jennifer Holleis | Razan Salman
4. August 2022

Zwei Jahre nach der verheerenden Explosion im Beiruter Hafen mit 200 Toten und 6000 Verletzten schwindet die Hoffnung auf eine Aufklärung. Kurz vor dem Jahrestag stürzte auch noch ein Symbol der Katastrophe ein.

Symbol der Explosion in Beirut: Einsturzgefährdeter Silo im Feuer
Die Silos im Beiruter Hafen kurz vor dem TeileinsturzBild: Idiris Okuduci/AA/picture alliance

Es wirkte wie ein Menetekel: Vier Tage vor dem zweiten Jahrestag der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut, bei der 216 Menschen starben, 6000 verletzt wurden und rund 300.000 Hauptstädter ihr Zuhause verloren, stürzte ein Teil des nördlichen Getreidesilos lautstark ein. Die markanten Silos sind für viele Libanesen Symbol der Katastrophe. 

Zwar gab es diesmal keine Verletzten oder Toten, aber der Knall, das Feuer und der Rauch erinnerten an die Detonation von 2750 Tonnen ungesichertem Ammoniumnitrat am 4. August 2020.

"Für mich fühlt es sich nicht wie zwei Jahre an", sagt William Noun, der seinen Bruder bei der Hafenexplosion verloren hat, gegenüber der DW. "Es tut noch genauso weh, wie am ersten Tag."

Der Einsturz des rund 50 Meter hohen Silos kam nicht überraschend. Schon seit drei Wochen loderten Flammen im Getreidespeicher, nachdem fermentierter Weizen Feuer gefangen hatte. Am Donnerstag, genau am zweiten Jahrestag der verheerenden Explosion stürzten dann weitere Getreidesilos ein. Laut Berichten von lokalen Medien kollabierten mindestens vier Türme. 

Im Gespräch mit der DW weist der libanesische Transportminister Ali Hamieh jedoch Vorwürfe zurück, die Regierung sei untätig geblieben: "Experten haben uns bestätigt, dass es unmöglich ist, den Weizen aus dem einsturzgefährdeten Silo zu holen." Die Regierung werde sich aber bemühen, die stabileren Bereiche des Silos zu erhalten.

Auch zwei Jahre nach der Explosion ist der Hafen in Beirut noch voll mit Schutt und ausgebrannten AutosBild: Hussein Malla/AP Photo/picture alliance

Dabei hatten Gerichte bereits im April beschlossen, den Silo aus Sicherheitsgründen abreißen zu lassen. Doch Angehörige von Opfern hatten Widerspruch eingelegt. Im Inneren könnte sich gerichtlich verwertbares Beweismaterial befinden - und der Silo versinnbildlicht zudem für viele Libanesen die Korruption und Vetternwirtschaft der herrschenden Elite, die das Land nach Meinung vieler Beobachter wirtschaftlich an den Abgrund geführt hat.

Kurz vor dem "völligen Zusammenbruch"

Seit mehr als einem Jahr befindet sich das libanesische Pfund im freien Fall. Weite Teile der Bevölkerung sind verarmt und als Folge des Krieges in der Ukraine ist die Angst groß, dass Brot bald zur Mangelware werden könnte. 

Der Beiruter Hafen im August 2020Bild: Houssam Shbaro/AA/picture alliance

"Bereits jetzt sind vor den Bäckereien lange Schlangen", sagte Anna Fleischer, die Leiterin des Büros der Heinrich Böll Stiftung in Beirut, der DW. Aus ihrer Sicht ist es offensichtlich, dass sich der Libanon nicht mehr nur in einer Krise befindet, sondern einen "völligen Zusammenbruch" erlebt. Entsprechend seien weitreichende Reformen und nicht nur "leichte kosmetische Maßnahmen" erforderlich, um das Land zu retten und das Vertrauen der Bürger in die Politik wieder aufzubauen.

"Aber zwei Jahre nach der Explosion ist die Krise wirtschaftlich, politisch und juristisch schlimmer als vorher", sagt Mohanad Hage Ali, Direktor für Kommunikation und Fellow am Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Center in London, gegenüber der DW.

Schlange vor einer Bäckerei in BeirutBild: Mohamed Azakir/REUTERS

Erschwerend komme hinzu, dass die Wahlen in diesem Jahr keine klare Mehrheit im Parlament ergeben haben, wodurch sich die Bildung einer neuen Regierung und vielleicht auch die Wahl eines neuen Präsidenten verzögern wird.

Hage Ali bezweifelt stark, dass der nächste libanesische Präsident ein Interesse daran haben könnte, die Untersuchung der Explosion fortzusetzen. "Der bisher wahrscheinlichste Kandidat, Soleiman Frangieh, schützt den ehemaligen libanesischen Minister für öffentliche Arbeiten und Verkehr, Youssef Fenianos. Und der steht wiederum im Zusammenhang mit der Untersuchung der Hafenexplosion", so der Experte.

Steiniger Weg zur Aufklärung

Vor allem die einflussreiche Hisbollah-Miliz und ihre Verbündeten haben die Ermittlungen bislang systematisch behindert. 

Der erste Untersuchungsrichter, Fadi Sawan, wurde kurzerhand abgesetzt, nachdem er den damaligen geschäftsführenden Premierminister Hassan Diab und drei ehemalige Minister wegen "vorsätzlicher Tötung und Fahrlässigkeit, die zum Tod von Dutzenden von Menschen geführt haben" angeklagt hatte.

Porträts erinnern im Juli 2021 an die Opfer der KatastropheBild: Hassan Ammar/AP Photo/picture alliance

Und auch die Ermittlungen des zweiten Richters, Tarek Bitar, liegen seit acht Monaten auf Eis. Der libanesische Kassationsgerichtshof hatte geurteilt, dass das Gericht zunächst mehrere freie Richterstellen besetzen muss. Die Ernennungen müssen jedoch vom Justizminister unterzeichnet und anschließend vom Finanzminister genehmigt werden. Dieser ist allerdings eng mit dem Parlamentspräsidenten Nabih Berri von der Hisbollah-nahen Amal-Partei verbunden."Für die Zukunft des Landes ist es ungemein wichtig, dass die Untersuchungen wieder aufgenommen werden, und dass Tarek Bitar die Arbeit fortsetzen und seine Berichte veröffentlichen kann," sagt Anna Fleischer von der Böll-Stiftung. Überlebende der Explosionskatastrophe verlieren jedoch langsam die Hoffnung auf eine umfassende Untersuchung.

"Zwei Jahre Schmerzen und Wut"

"Seit zwei Jahren habe ich Schmerzen und bin wütend", sagt Melvine Khoury. Die Beiruterin wurde bei der Explosion am Auge, im Gesicht und an der Schulter schwer verletzt. Sie frage sich, wie es sein könne, dass "die verantwortlichen Leute bei Wahlen kandidieren, während ich unter Schmerzen in einem Krankenhausbett liege." 

Auch Menschenrechtsgruppen fordern nach wie vor eine Untersuchung der Explosion. "Zwei Jahre nach dem Trauma haben die Opfer immer noch keine Antworten", sagt Lama Fakih, Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch.

Für Fakih ist es unverständlich, dass kein Regierungsmitglied zur Rechenschaft gezogen wurde, während immer noch zwischen 10 und 20 zivile Hafenarbeiter in Untersuchungshaft sitzen.

"Sie haben keine Chance, sich zu verteidigen, solange die Ermittlungen auf Eis liegen", so Fakih. Und auch für die Zukunft befürchtet sie, dass sich "diese Situation nicht so bald ändern wird".

"Plötzlich war unsere ganze Wohnung kaputt" – Dokumentarfilmer Tilo Gummel über die Katastrophe in Beirut

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Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.
Razan Salman Studio Beirut