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Warum die Taliban für Russland keine Terroristen mehr sind

Alexey Strelnikov
17. April 2025

Russlands Behörden haben die Taliban von der Terrorliste gestrichen. Dies ermöglicht es dem Kreml, Abkommen mit Afghanistan zu schließen und zudem die Kontakte zur Übergangsregierung in Syrien zu verbessern.

Zwei Taliban-Vertreter sitzen an einem großen Runden Tisch auf einer Konferenz in Moskau im Oktober 2021
Taliban-Vertreter auf einer Konferenz in Moskau im Oktober 2021Bild: Sergei Bobylev/TASS/dpa/picture alliance

Das Oberste Gericht der Russischen Föderation hat in einer nichtöffentlichen Sitzung am 17. April das Verbot der Taliban in Russland "vorübergehend" ausgesetzt. Den Antrag dazu hatte die Generalstaatsanwaltschaft gestellt.

Der Antrag beruht auf einem von Präsident Wladimir Putin vor einem Jahr erlassenen Dekret, das es ermöglichte, die Taliban, eine radikale islamistische Bewegung in Afghanistan, von der Terrorliste zu nehmen. Im Jahr 2021 hatten die Taliban nach dem Abzug der Streitkräfte der internationalen Koalition aus dem Land die Macht in Kabul zurückerlangt.

Eigentlich muss laut russischer Rechtslage ein Angehöriger der Taliban bei der Einreise nach Russland festgenommen werden - ihm drohen wegen des Vorwurfs terroristischer Aktivitäten bis zu 20 Jahre Haft. Faktisch ist aber seit 2016 kein Taliban bei der Einreise nach Russland mehr festgenommen worden.

Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kreml damit begonnen, inoffizielle Verhandlungen mit den Taliban aufzunehmen. Ihre Vertreter besuchten daraufhin immer wieder Moskau und St. Petersburg, wo sie sogar am Rande des Internationalen Wirtschaftsforums zu sehen waren.

Die russischen Medien sprachen aber weiterhin von einer "in Russland verbotenen Terrororganisation". Doch im Jahr 2024 änderte sich dies. Putin begann, die Taliban als "Verbündete im Kampf gegen den Terrorismus" zu bezeichnen.

Taliban unterstützen tschetschenische Kämpfer

Im zweiten Tschetschenienkrieg, der von 1999 bis 2009 dauerte, nahmen die Taliban diplomatische Beziehungen zur tschetschenischen Regierung von Aslan Maschadow auf und erkannten die Unabhängigkeitserklärung der russischen Teilrepublik an. Sie unterstützten tschetschenische Kämpfer sowohl finanziell als auch mit Waffen gegen Moskau.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA kämpften die Streitkräfte der internationalen Anti-Terror-Koalition unter dem Kommando der NATO im Rahmen der ISAF-Mission mit Unterstützung der neuen afghanischen Regierung gegen die Taliban. Diese hatten zuvor den größten Teil des Landes kontrolliert.

Eigentlich hatten die Taliban auf Hilfe aus Moskau gehofft. Der damalige Chef der russischen Präsidialverwaltung, Sergej Iwanow, sagte dazu in einem BBC-Interview, dass der geistliche Führer Afghanistans, Mullah Omar, im Jahr 2001 Russland vorgeschlagen hatte, gemeinsam "die amerikanische Aggression zu bekämpfen".

Der Kreml, wie er sagte, habe auf Englisch mit "F***-off" geantwortet. 2003 setzte Russland die Taliban zudem auf die Liste terroristischer Organisationen.

Vertreter der afghanischen Taliban-Regierung in Moskau im Jahr 2021Bild: Sergei Bobylev/TASS/dpa/picture alliance

2015 begann der Kreml aber, "Kommunikationskanäle" zur Taliban aufzubauen. 2024 unterzeichnete Putin schließlich das Dekret, das es ermöglichte, die Taliban von der Terrorliste zu streichen. Dieses Verfahren könnte es Moskau in Zukunft ermöglichen, auch die Gruppe Haiʾat Tahrir asch-Scham, die derzeit die Übergangsregierung Syriens kontrolliert, von der Liste der Terrororganisationen zu nehmen.

Was ändert sich rechtlich gesehen?

Die Entscheidung des Obersten Gerichts soll offenbar ermöglichen, mit Afghanistan nun direkt umfassende Abkommen schließen zu können. Jewgenij Smirnow von der Gesellschaft unabhängiger Menschenrechtler "Pervyj otdel" (Erste Abteilung) weist im DW-Gespräch darauf hin, dass das russische Strafgesetzbuch für die Zusammenarbeit mit als terroristisch eingestuften Organisationen unterschiedliche Haftstrafen vorsieht.

Trotzdem seien im Jahr 2024 Verträge über die Lieferung von Ölprodukten, Weizen und Mehl geschlossen worden. Dem Anwalt zufolge sind sie möglicherweise über Geschäftsstrukturen ohne direkte Beteiligung von Taliban-Vertretern zustande gekommen.

Bewaffnete Taliban-Angehörige in Kabul im August 2023 auf einem MotorradBild: Siddiqullah Alizai/AP/dpa

Smirnow betont, dass es im russischen Recht eigentlich kein klares Verfahren gibt, mit dem eine Einstufung als Terrororganisation rückgängig gemacht werden kann. "Die vorübergehende Streichung bedeutet, dass die Organisation faktisch von der Liste entfernt wird. Ab dann gibt es keine strafrechtlichen Konsequenzen für die Zusammenarbeit mit den Taliban mehr. Bereits verhängte Urteile können aber nicht mehr revidiert werden", meint er.

Russlands gewährt politische Immunität

Bislang habe kein einziger Staat die Taliban offiziell als legitime Macht in Afghanistan anerkannt, sagt der Orientalist Ruslan Suleymanov der DW. Ihm zufolge versucht die Bewegung jedoch, aus der internationalen Isolation herauszukommen. So gelang es ihnen beispielsweise, auch Kasachstan und Kirgisistan davon zu überzeugen, sie von ihren nationalen Listen terroristischer Organisationen zu streichen.

"Bisher handelt es sich lediglich um eine indirekte Anerkennung. So hat sich China beispielsweise bereit erklärt, den von den Taliban ernannten Botschafter zu akzeptieren, Russland hingegen nur den vorübergehenden Geschäftsträger", erläutert Suleymanov.

Seiner Ansicht nach hängt die Skepsis der internationalen Gemeinschaft gegenüber der Bewegung mit der Rückkehr strenger, restriktiver Gesetze in Afghanistan zusammen - ähnlich denen, die während der vorherigen Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 in Kraft waren. So hat sich die Menschenrechtslage im Land extrem verschlechtert, insbesondere für Frauen und Mädchen.

Vor dem Hintergrund der sich verschlechternden Beziehungen zum Westen habe Moskau begonnen, Kontakte zu gemäßigten Vertretern der Taliban aufzubauen, sagt Suleymanov, da sich Russland als bedeutenden Akteur in der Region betrachte. Dies hänge mit der politischen Immunität zusammen, die den Taliban für Reisen nach Russland zugestanden worden sei.

Der Kreml habe im Jahr 2021 zeigen wollen, dass die Amerikaner in ihrer Außenpolitik versagt hätten. "Die russische Propaganda applaudierte den Taliban, was im Allgemeinen bis heute vor dem Hintergrund der unaufhörlichen antiwestlichen Rhetorik in Russland anhält", so der Experte.

Was erwartet die Taliban nach ihrer Legalisierung in Russland?

Suleymanov rechnet nicht damit, dass der Einfluss der Taliban in Russland im Zusammenhang mit der Entscheidung des Obersten Gerichts zunehmen wird. Er weist darauf hin, dass zwar die meisten Muslime in Russland, wie auch die Taliban, Sunniten seien, es zwischen den Regionen jedoch erhebliche ideologische Unterschiede gebe.

"Die Taliban sind ihnen fremd und unverständlich", betont er. So äußerte beispielsweise der Mufti der Geistigen Versammlung der Muslime Russlands, Albir Krganow, im Jahr 2021 "Besorgnis" über eine Annäherung an die Taliban. Seiner Meinung nach könnten Vertreter der Völker Zentralasiens, die den Taliban angehören, in russischen Regionen mit muslimischer Bevölkerung die "Lage destabilisieren".

Auch sei die russische Wirtschaft nicht daran interessiert, sich in Afghanistan zu engagieren, stellt Suleymanov fest, da die Region nach wie vor gefährlich und instabil sei. "Selbst das für 2022 zwischen Moskau und Kabul geschlossene Abkommen über die Lieferung von Treibstoff und Weizen aus Russland ist nicht vollständig umgesetzt", erinnert der Experte. Gleichzeitig seien der Iran, China und Pakistan weiterhin die wichtigsten Handelspartner Afghanistans.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

 

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