Warum Filmkritiker nicht immer richtig liegen
14. Februar 2019Dieser Tage saß ich bei einer Berlinale-Vorführung zufällig neben einem Filmkritiker, auf dessen Urteil ich vertraue. Er nickte während des Films ein, weshalb ich neugierig war, ob er ihn am nächsten Tag in seiner Rezension verreißen würde. Das tat er nicht. Während andere Kritiker die Länge dieses Spielfilms monierten, hatte er nur Positives zu berichten. Wenn man die Hälfte des Films verschläft, fühlt er sich wahrscheinlich nicht so lang an.
Filmkritiker haben das große Privileg, auf einem Festival innerhalb kurzer Zeit eine Vielzahl von Filmen zu sehen - was nicht immer so einfach ist, wie es klingt. Im Idealfall widmen sie sich dem 20. Film mit der gleichen Geduld wie dem ersten. Die Realität sieht oft anders aus.
Kritiker, die für die Tagespresse arbeiten, müssen sich sehr schnell eine Meinung bilden und innerhalb weniger Stunden eine Kritik verfassen, die alle wesentlichen Aspekte des besprochenen Werks beinhaltet. Zwar kennen sie sich in der Regel gut aus, ihre Meinung ist letztlich aber ebenso subjektiv, wie die von jedem anderen Zuschauer.
Null bis vier Sterne
Die Zeitschrift "Screen International" bittet internationale Kritiker der Berlinale - ebenso wie bei anderen großen Filmfestivals wie Cannes und Toronto - um ihre Einschätzung zu den Wettbewerbsbeiträgen. Die Bewertung geht von vier ("Ausgezeichnet") bis null Sternen ("Schlecht"). Die Ergebnisse erscheinen in der täglichen Printausgabe von "Screen". Diese Bewertungen enthalten keine Rezension, weshalb sich die Geschmäcker der Kritiker kaum erfassen lassen.
Besonders auffällig sind in diesem Berlinale-Jahr die Bewertungen des italienischen Kritikers und Produzenten Paolo Bertolin. Fatih Akins umstrittener Film "Der goldene Handschuh" erhielt von Bertolin die Höchstwertung, während die Hälfte der anderen Experten ihm eine schlechte Bewertung gaben. Bislang ist der Italiener auch als einziger Kritiker der Meinung, dass einige Filme überhaupt keine Sterne verdienten: François Ozons "Grâce à Dieu" und Agnieszka Hollands "Mr. Jones".
Bis Donnerstag lagen drei Filme in der Gunst der Kritiker vorne: "A Tale of Three Sisters" von Emin Alper (Foto oben), "God Exists, Her Name is Petrunija" von Teona Strugar Mitevska und "Öndög" von Wang Quan'an. Drei Wettbewerbsfilme standen noch aus: Isabel Coixets "Elisa y Marcela", Nadav Lapids "Synonymes" und Wang Xiaoshuais "So Long, My Son".
Einstimmigkeit ist keine Garantie
Zwar kann die "Screen"-Rangliste eine Tendenz abbilden, allerdings hat die Vergangenheit gezeigt: Auch die größte Begeisterung und Einstimmigkeit der Kritiker ist keine Garantie dafür, dass die Festivaljury die Filme genauso bewertet.
Als Ken Loach 2016 mit "I, Daniel Blake" die Goldene Palme in Cannes gewann, war die Überraschung unter den Kritikern groß: In ihrer Rangliste hatte der Film lediglich 2,4 Punkte erreicht. Der deutsche Beitrag, "Toni Erdmann" von Maren Ade, hatte mit 3,7 von vier Sternen dagegen die höchste Punktzahl in der Geschichte von "Screen" erzielt - und ging leer aus.
Auch der Gewinner des Goldenen Bären der Berlinale 2018 trotzte der Kritikermeinung. Adina Pintilies "Touch Me Not" hatte im Ranking lediglich 1,5 Sterne erhalten, nur zwei Beiträge waren in jenem Jahr noch schlechter bewertet worden.
Entsprechend scharf fiel die Kritik an der Entscheidung der Jury damals aus: "Der oberflächliche, dämliche Gewinner des Goldenen Bären ist eine Katastrophe für das Festival", schrieb Peter Bradshaw im "Guardian". Die Kritikerin des US-Magazins "Time", Stephanie Zacharek, die 2018 der Wettbewerbsjury angehörte, sagte der DW, dass sie Bradshaw zwar gerne lese, seine Meinung aber keinen Einfluss auf ihr Urteil gehabt habe. "Es ist selbstverständlich, dass ich den Film liebe und zu unserer Wahl stehe."
Kritik auf ein Minimum gekürzt
Kurzbewertungen mit Punkten und Sternen sind beliebt, weil sie eine Kritik auf das Minimum herunterbrechen. Ausführliche Filmkritiken können sie nicht ersetzen, weil dort auch Nuancen Beachtung finden.
Der auf der Berlinale gezeigte Dokumentarfilm "What She Said: The Art of Pauline Kael" würdigt die Kunst der Filmkritik, indem er eine der einflussreichsten Kritikerinnen vorstellt. In einer lange von Männern dominierten Domäne gelang es Pauline Kael, den Stil der Filmkritik nachhaltig zu beeinflussen. "Es war egal, ob du die Filme, über die sie schrieb, gesehen hast. Sie wurden mit ihrer Prosa lebendig", sagte Stephanie Zacharek, die auch in der Dokumentation zu sehen ist.
Nach einer Reihe von Filmkritiken für eine Radiosendung und dem Versuch, als Schriftstellerin Geld zu verdienen, wurde Kael 1967 Filmkritikerin beim "New Yorker". Zuvor hatte sie eine schwärmerische Kritik zu "Bonnie und Clyde" veröffentlicht, den die meisten Kritiker eher zwiespältig bewerteten. Auch das Publikum nahm ihn anfangs schlecht auf, bis Kaels Kritik ihn letztlich zu einem Kassenschlager machte.
Scorsese zum Durchbruch verholfen
Der Dokumentarfilm von Rob Garver zeichnet nach, wie Kael von Filmen des frühen 20. Jahrhunderts beeinflusst und später selbst so einflussreich wurde, dass sie Regisseuren wie Martin Scorsese und Brian de Palma durch ihre Besprechungen zum Durchbruch verhalf.
Die Leser vertrauten ihrem Urteil, auch wenn es sich von der Bewertung anderer Kritiker unterschied, die einen Film einstimmig als Meisterwerk feierten, etwa Stanley Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum", den Kael als "monumental ideenlosen Film" bezeichnete.
Ob sich Kritiker und Berlinale-Jury in diesem Jahr einig sind, wird die Preisverleihung am Samstag zeigen. Vielleicht gewinnt ein Werk, das die Journalisten einvernehmlich als monumental ideenlos bewerten. Das würde immerhin neue Diskussionen befeuern - und genau darum geht es doch bei der Filmkritik.