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Warum Großbritannien mit der Anerkennung Palästinas droht

Andreas Noll
30. Juli 2025

Keir Starmer droht Israel mit der baldigen Anerkennung Palästinas. Der britische Premierminister rückt damit ein "unveräußerliches Recht" in den Mittelpunkt und macht es zugleich zum diplomatischen Hebel gegen Israel.

Porträt von Keir Starmer
Keir Starmer gibt Erklärung zur Gaza-Situation ab (29.07.)Bild: Toby Melville/REUTERS

Die Neuausrichtung der britischen Nahost-Politik erfolgte kurz nach einem Treffen von Premierminister Keir Starmer mit US-Präsident Donald Trump in Schottland: Nur einen Tag später rief Starmer am Dienstag (29.7.) seine Minister zu einer Sondersitzung aus der Sommerpause zurück und präsentierte in London der Öffentlichkeit den neuen Kurs.

Treffen in Trumps Golf-Club: Keir Starmer (li.) und Donald Trump am Montag in Balmedie (Schottland)Bild: Jane Barlow/WPA Pool/Getty Images

Von Israel verlangt der Regierungschef eine sofortige Waffenruhe, den Verzicht auf Annexionspläne im Westjordanland sowie konkrete Schritte in Richtung einer Zwei-Staaten-Lösung. Andernfalls werde Großbritannien im September dem französischen Vorbild folgen und Palästina als unabhängigen Staat anerkennen. Die palästinensische Staatlichkeit sei ein unveräußerliches Recht des palästinensischen Volkes - ein inalienable right, so Starmer. Seine Regierung nutzt die mögliche Anerkennung nun gezielt als politisches Druckmittel, um Fortschritte bei der Zwei-Staaten-Lösung zu erzwingen.

Historische Verantwortung 

Bislang hat London die Anerkennung eines palästinensischen Staates immer wieder hinausgezögert - auch aus historischer Verantwortung. Zwischen 1920 und 1948 war Großbritannien Mandatsmacht in Palästina und trug damit koloniale Mitverantwortung für die wachsenden Spannungen zwischen jüdischen Zuwanderern und arabischer Mehrheitsbevölkerung. In der nach dem damaligen britischen Außenminister Arthur Balfour benannten Balfour-Deklaration hatte Großbritannien 1917 den Juden eine "nationale Heimstätte" in Aussicht gestellt, ohne die politischen Rechte der arabischen Bevölkerungsmehrheit wirksam zu berücksichtigen.

Autor der Balfour-Deklaration: der britische Außenminister Arthur J. Balfour Bild: akg-images/picture alliance

Nach Ende des Mandats und der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 erkannte Großbritannien Israel rasch an. Für eine Anerkennung Palästinas definierte die britische Regierung das Prinzip, diese dürfe nicht einseitig erfolgen, sondern müsse Teil eines umfassenden Friedenspakets sein. Das hatte auch strategische Gründe, da London seine engen Beziehungen zu Washington und Jerusalem nicht gefährden wollte.

Straßenproteste, Umfragen, Labour-Basis

Die historisch geprägte Zurückhaltung der Briten gerät zunehmend unter Druck. Der Gaza-Krieg - ausgelöst durch den Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, bei dem rund 1200 Menschen getötet und 251 Geiseln verschleppt wurden - sorgt für massive Spannungen in der britischen Innenpolitik. In Städten wie London, Manchester oder Glasgow kommt es regelmäßig zu Massendemonstrationen für ein Ende der israelischen Besatzung und die Anerkennung Palästinas.

Protest gegen israelische Angriffe auf Gaza und den Iran im Juni 2025 in LondonBild: Vuk Valcic/ZUMA Press Wire/IMAGO

Getragen werden diese Proteste nicht nur von großen Gewerkschaften, sondern auch von seit Jahren aktiven linksorientierten Organisationen wie der "Palestine Solidarity Campaign" oder der "Stop the War Coalition". Ex-Labour-Parteichef Jeremy Corbyn, eine Symbolfigur der Proteste, fordert ein Ende aller Waffenlieferungen an Israel und hat vor wenigen Tagen die Gründung einer eigenen Partei angekündigt. Corbyn war 2020 aus der Labour-Partei ausgeschlossen worden, weil er sich weigerte, die Erkenntnisse eines Untersuchungsausschusses zu akzeptieren, wonach Antisemitismus in den Reihen der Partei unter seiner Führung überhand genommen hatte.

Laut einer aktuellen YouGov-Umfrage aus dieser Woche befürworten fast zwei Drittel der Labour-Anhänger die Anerkennung eines palästinensischen Staates durch die britische Regierung. Im Unterhaus unterzeichneten zuletzt 221 Abgeordnete, darunter zahlreiche Mitglieder der Labour-Fraktion, einen Brief, der eine sofortige Anerkennung verlangte. Auch zahlreiche Minister in Starmers Regierung drängen in diese Richtung.

Wachsender Druck auf Downing Street

Keir Starmer gibt mit dem Kurswechsel diesem Druck zumindest teilweise nach. Er betont zwar, dass es keine Gleichsetzung zwischen "Israel und den Terroristen der Hamas" geben könne. Zugleich kritisierte der Premier die israelische Kriegführung und Besatzungspolitik im Gazastreifen massiv: "Jetzt sehen wir in Gaza aufgrund eines katastrophalen Versagens der Hilfsmaßnahmen hungernde Babys und Kinder, die zu schwach sind, um zu stehen: Bilder, die uns ein Leben lang begleiten werden. Das Leiden muss ein Ende haben."

Notunterkünfte für Vertriebene am Strand westlich von Gaza-StadtBild: Majdi Fathi/NurPhoto/picture alliance

Die Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen warnen vor einer massiven Hungersnot in Gaza. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte dagegen zuletzt erklärt, es gebe "keine Hungersnot im Gazastreifen".

Nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums in Gaza kamen bis Juli 2025 mehr als 60.000 Menschen durch den Krieg ums Leben, fast die Hälfte davon Frauen und Kinder. Unabhängig überprüfen lassen sich diese Zahlen nicht; unter anderem, weil Israel Journalisten den Zugang in den Gazastreifen verwehrt.

London folgt Paris - mit Vorbehalt

Starmers Kurswechsel ist aber auch eine Reaktion auf den Vorstoß des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, Palästina während der UN-Vollversammlung im September "im Namen eines gerechten und dauerhaften Friedens" anzuerkennen. Frankreich wolle damit den Friedensprozess neu beleben und der Zwei-Staaten-Lösung internationales Gewicht verleihen, erklärte Macron am 24. Juli in Paris.

Auf der UN-Vollversammlung im September will Frankreich Palästina anerkennenBild: Charly Triballeau/AFP/Getty Images

Anders als Macron sieht Starmer die Anerkennung weiterhin als letzte Option, falls Israel bis dahin keine Schritte zur Deeskalation unternimmt. Damit wirkt Londons Linie eher reaktiv als initiativ. Beobachter sprechen von einem Balanceakt zwischen moralischer Positionierung und außenpolitischer Rücksichtnahme auf die USA.

US-Präsident Donald Trump äußerte sich nach dem Treffen mit Starmer in Schottland Anfang der Woche zurückhaltend. Man habe nicht über einen palästinensischen Staat gesprochen, er habe damit aber "kein Problem". Zugleich warnte er davor, die Hamas zu belohnen. Israels Premier Netanjahu reagierte hingegen scharf: Die Anerkennung sei ein "Akt der Beschwichtigung gegenüber Dschihadisten" und werde "den Terrorismus stärken".

Israel: Angehörige verschleppter Geiseln frustriert

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Völkerrechtliche Voraussetzungen

Die Staatlichkeit von Palästina wird derzeit von 147 der 193 UN-Mitgliedsstaaten anerkannt. Der aktuell in mehreren Staaten Europas ausgetragene Streit um den richtigen Zeitpunkt für die Anerkennung Palästinas vollzieht sich vor dem Hintergrund, dass die völkerrechtlichen Voraussetzungen für einen handlungsfähigen palästinensischen Staat bislang nicht gegeben sind.

Es fehlt ein klar definiertes Territorium, eine einheitliche Regierung und die unabhängige Kontrolle über zentrale Bereiche wie Sicherheit, Justiz oder Grenzschutz. In der Erklärung zum Kurswechsel seiner Regierung betonte der britische Premier, dass die Hamas in einer künftigen Regierung "keinerlei Rolle" spielen dürfe.

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