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Warum HIV-Positive in Russland Ärzte fürchten

Irina Chevtayeva
1. Dezember 2024

Osteuropa und Zentralasien sind die Weltregionen, in denen immer mehr Menschen an AIDS sterben. Stigmatisierung und Diskriminierung, auch durch Ärzte, spielen eine Rolle. Betroffene haben der DW ihre Geschichte erzählt.

Sticker der Landesweiten russischen Aktion "Stopp HIV/AIDS"
Landesweite russische Aktion "Stopp HIV/AIDS"Bild: Peter Kovalev/TASS/dpa/picture alliance

Jana Kolpakowa aus Wladiwostok lebt schon lange mit HIV und spricht offen darüber. Nach ihrer Einschätzung dürfte in Russland jeder mit dieser Diagnose schon von Ärzten diskriminiert worden sein. "Eine Krankenschwester hat Menschen wie mir geraten, sich sterilisieren zu lassen. Als ich wegen einer Eileiterruptur ins Krankenhaus eingeliefert wurde, nannte man mich eine Hure. Man warf mir laut vor, Drogen zu nehmen, weswegen eine Anästhesie angeblich nicht wirken würde", erzählt Kolpakowa.

Jana Kolpakowa beklagt DiskriminierungBild: Privat

Stefania Hrydina wurde im Alter von elf Jahren in Nikopol, Ukraine, adoptiert. Seitdem weiß sie, dass sie HIV-positiv ist. Sie hat sich, wie ihr gesagt wurde, vermutlich bei ihrer leiblichen Mutter infiziert, die sie aber nicht kennt. "Mein Adoptivvater benahm sich mir gegenüber normal, aber meine Mutter gab mir eigenes Geschirr, sie trennte einfach alles." Bei einer ärztlichen Untersuchung in der Stadt Dnipro im Alter von 18 Jahren wurde ihr gesagt, Leute mit HIV hätten dort keinen Platz. Es war für die heute 23-jährige Hrydina der letzte Kontakt zu einem Arzt in der Ukraine.

Stefania Hrydina wohnt heute in BerlinBild: DW

Walentina Mankijewa aus Almaty in Kasachstan berichtet, wie sie von einem Neurologen in Anwesenheit ihrer zehnjährigen Tochter, die den positiven HIV-Status ihrer Mutter kennt, gefragt wurde, ob ihre Tochter auch an HIV erkrankt sei. "Mein Blutdruck schnellte hoch. Ich lebe seit 27 Jahren mit HIV und ich kann mich einfach nicht an dieses weit verbreitete Unwissen gewöhnen. Natürlich habe ich ihm erklärt, dass Menschen mit HIV gesunde Kinder bekommen können", sagt Mankijewa. Der Arzt habe auf Abstand und mit Handschuhen ihren Rücken untersucht.

Walentina Mankijewa lebt in KasachstanBild: Privat

Mehr Infektionen, mehr Todesfälle

Nach Angaben des Gemeinsamen Programms der Vereinten Nationen für HIV/AIDS (UNAIDS) entfallen 93 Prozent aller neuen HIV-Fälle in Osteuropa und Zentralasien auf nur vier Nationen: Russland, die Ukraine, Usbekistan und Kasachstan. Diese Region sei die einzige weltweit, wo neben den Neuinfektionen auch die HIV-bedingten Todesfälle zunehmen, heißt es im neuen Lagebericht, der anlässlich des Welt-AIDS-Tags am 1. Dezember veröffentlicht wurde. Demnach stiegen die Neuinfektionen im Jahr 2023 im Vergleich zu 2010 um 20 Prozent, die Zahl der Todesfälle um 34 Prozent.

"In der Region herrscht ein hohes Maß an Stigmatisierung und Diskriminierung, was den Zugang zur Gesundheitsversorgung erschwert", sagt UNAIDS-Stabschef Mahesh Mahalingam der DW. Das Problem sei oft, dass die Menschen ihren HIV-Status entweder nicht kennen, zu spät erfahren oder die Therapie abbrechen. "Die Menschen haben das Gefühl, sich wegen ihres HIV-Status' schämen zu müssen, was ihre Gesundheitsversorgung erschwert. Man meidet Orte, an denen man nicht respektiert und womöglich stigmatisiert wird", so Mahalingam.

Russen verschweigen meist ihren HIV-Status

Die meisten Menschen mit HIV in der Region leben in Russland. Nach Angaben der russischen Behörden sind es mehr als 1,1 Millionen. Gesundheitsminister Michail Muraschko erklärte, die HIV-Inzidenz sei seit 2016 um fast 40 Prozent zurückgegangen und befinde sich nun auf einem historischen Tiefstand.

Diese Zahlen würden nur die positive Seite widerspiegeln, sagt Wadim Pokrowskij von der Russischen Akademie der Wissenschaften. "In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der Erkrankten katastrophal gestiegen. Das russische Gesundheitsministerium meldete der Weltgesundheitsorganisation WHO von 2015 bis 2022 mehr als 600.000 neue HIV-Infektionen. 2023 waren es weitere 50.000, was auch für 2024 erwartet wird. Die HIV-Todesfälle sind 2023 im Vergleich zum Vorjahr um fünf Prozent gestiegen", so der Experte für Infektionskrankheiten. Pokrowskij zufolge nehmen die Probleme nicht ab, sondern entgegen einiger besserer Indikatoren sogar zu.

In der Medizin gebe es Probleme auf verschiedenen Ebenen, sagt Maria Godlewskaja, HIV-Aktivistin aus St. Petersburg. "Selbst diejenigen, die sich bewusst für einen HIV-Test entschieden haben und bei denen er positiv ausfällt, suchen oft keinen Arzt mehr auf. Viele sagen, die ersten Monate nach der Diagnose seien für sie die Hölle gewesen. Sie seien erst vom Infektiologen und dann vom Epidemiologen sozusagen verhört worden, um herauszufinden, wie sie sich infiziert hätten", berichtet Godlewskaja.

Maria Godlewskaja kritisiert das Verhalten der ÄrzteBild: Eva

Ihr zufolge fürchten die Menschen, Informationen könnten an ihre Arbeitgeber oder Ehepartner gelangen. Zudem würden sie Ärzte in Kleinstädten meiden, wo sich alles schnell herumspricht. Denn HIV sei in Russland nach wie vor eine der am stärksten stigmatisierten Krankheiten. 81 Prozent der Betroffenen verheimlichten laut dem Stigma Index 2.0 ihre Diagnose. Ferner würden Ärzte oft ablehnen, HIV-Infizierte zu untersuchen und zu behandeln, so die Aktivistin.

Das Gleiche beobachtet Olesja Kurakina, Infektiologin und Autorin eines medizinischen Blogs aus Nischni Nowgorod. "Oft wird HIV-positiven Patienten Hilfe verweigert und sie werden an AIDS-Zentren verwiesen", sagt sie. Dies werde damit begründet, die Patienten hätten eine verminderte Immunität und seien ansteckend. Angeblich könnten sie nur dort medizinisch versorgt werden. Dabei würden den Zentren oft Spezialisten fehlen. "Menschen mit HIV zögern den Gang zum Arzt bis zur letzten Minute hinaus und suchen nur nach Medizinern, die sie nicht schief anschauen." 

Wissen die Ärzte zu wenig über HIV?

Kurakina kritisiert den großen Mangel an Aufklärung zum Thema HIV in Russland. "Selbst während meines Studiums wurde uns sehr wenig darüber gesagt", betont sie. Aktivistin Godlewskaja weist darauf hin, dass Ärzte in Großstädten mehr Möglichkeiten hätten, an Fortbildungen teilzunehmen. Daher seien Ärzte in kleinen Städten oft nicht auf dem neuesten Stand. Gestritten werde beispielsweise darüber, ob "nicht nachweisbar auch nicht ansteckend" bedeutet. Dabei gehe es um die Frage, ob HIV-Positive, die therapiert werden und bei denen daher keine Viruslast nachweisbar ist, bei sexuellem Kontakt HIV übertragen können oder nicht.

Doch dies ändere sich allmählich, findet Infektiologin Kurakina. Es gebe zunehmend fähige Ärzte, die völlig normal auf HIV-Patienten reagieren würden. Das sei für die Menschen erfreulich. "Heute schreiben mir Patienten, dass sie beim Arztbesuch nicht schief angesehen wurden", so Kurakina. Das kann Jana Kolpakowa aus Wladiwostok bestätigen. Sie habe auch "wunderbare" Ärzte in Russland getroffen, die gut ausgebildet seien und sich trotz hoher Arbeitsbelastung bemühen würden.

"Man muss auf seine Worte achten"

Kolpakowa lebt seit zwei Jahren in den USA und bloggt aktiv über HIV. Sich so frei zu diesem Thema zu äußern, können sich viele Menschen in Russland derzeit nicht leisten. Ein "Propaganda-Verbot" verhindert, über das Thema LGBTQ+ zu sprechen, insbesondere wenn eine Organisation staatliche Mittel erhält.

"Manche Organisationen suchen einen Ausgleich. Aber der Staat schreibt ihnen vor, sich beispielsweise mit Heranwachsenden zu befassen und ihnen 'Patriotismus und traditionelle Werte' zu vermitteln. Wer das ablehnt, kann nur von Spenden leben. Für ausländische Sponsoren ist Russland faktisch verschlossen", so Kolpakowa.

"Man muss sehr auf seine Worte achten. Wenn man über Drogen spricht, wird einem vorgeworfen, sie zu propagieren. Sex gibt es bei uns nicht, nur Keuschheit und Abstinenz. Es ist verboten, Kondome zu verteilen, obwohl Sex der Hauptübertragungsweg von HIV ist", schreibt der DW ein russischer Experte, der anonym bleiben will.

Kondome zur Verhütung von AIDS dürfen in Russland nicht verteilt werdenBild: picture alliance/Zoonar

Russland soll sich aktiver im Kampf gegen HIV engagieren

Russland müsse die Bekämpfung von HIV verstärken, fordert UNAIDS. Gleichzeitig stellt die Organisation fest, dass die von Russland überfallene Ukraine bereits viel im Kampf gegen HIV getan habe - und weiterhin tut. Wie sich der Krieg auf die Situation auswirkt, können Experten noch nicht sagen.

Die Ukrainerin Stefania Hrydina kam 2022 nach Deutschland. Sie schloss eine Ausbildung zur Ökologin ab und lebt in Berlin. Jetzt habe sie keine Angst mehr, zum Arzt zu gehen, sagt sie.

Walentina Mankijewa leitet mittlerweile das zentralasiatische Frauennetzwerk "Amal" und hilft HIV-Positiven dabei, mit der Angst vor Ablehnung durch die Gesellschaft umzugehen. Nach ihrem erfolglosen Besuch beim Neurologen sprach Mankijewa mit der Leiterin der Klinik und bot ihr an, ein Seminar für Ärzte zum Thema HIV abzuhalten. Die Klinikleitung stimmte zu.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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