Warum immer mehr junge Ukrainer nach Deutschland kommen
30. Oktober 2025
Fast 1,3 Millionen ukrainische Flüchtlinge sind während des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine nach Deutschland gekommen. Anfang Oktober waren insgesamt 1.293.672 Personen im Ausländerzentralregister gemeldet, denen seit Februar 2022 vorübergehender Schutz gewährt wurde. Bislang waren das vor allem ukrainische Frauen mit Kindern oder Rentner. Nun zeichnet sich ab, dass noch mehr Flüchtlinge kommen - vor allem junge Männer.
Grund dafür sind die von der ukrainischen Regierung geänderten Regelungen für den Grenzübertritt. Seit dem 28. August dürfen Männer zwischen 18 und 22 Jahren ungehindert ausreisen. Das hat nun dazu geführt, dass die Zahl ukrainischer Männer dieser Altersgruppe, die sich in Deutschland melden, laut Bundesinnenministerium sprunghaft angestiegen ist - von etwa 100 auf fast 1000 pro Woche, also um das Zehnfache.
Immer mehr junge Ukrainer machen sich auf
Auch eine Beratungsstelle für Flüchtlinge in Berlin bestätigt, dass sie die seit September von zahlreichen jungen Männern aus der Ukraine aufgesucht wurde. "Bisher waren Männer dieser Altersgruppe unter den von uns betreuten Menschen nicht so stark vertreten", sagt Elina Waehner, Koordinatorin der Beratungsstelle in Berlin, wo im September mehr als 440 Gespräche geführt wurden - 13 Prozent davon mit jungen Männern. Das sei ein klarer Anstieg im Vergleich zu den 0,1 Prozent im Sommer.
Manche der jungen Leute wenden sich direkt an die Erstaufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge, andere kommen zunächst bei Freunden oder Verwandten in Deutschland unter. Der Beratungsstelle zufolge stellt das "relativ hohe Bildungsniveau" dieser jungen Männer eine Besonderheit dar. Die meisten von ihnen wollen zunächst ihren Aufenthalt in Deutschland mit einem vorübergehenden Schutzstatus absichern, um dann einen Studienplatz oder eine Arbeitsstelle zu suchen.
Maksym: "Ich bin gekommen, um eine Ausbildung zu machen"
Einer von denen, die die Gelegenheit zur Ausreise aus der Ukraine ergriffen haben, ist der 20-jährige Maksym aus Kyjiw. Er ist vor kurzem in Berlin angekommen - es ist sein erster Auslandsaufenthalt. Während er über den Alexanderplatz schlendert, kann er seine Gefühle kaum fassen: "Ich bin total überwältigt! Meine Freude ist grenzenlos, denn mir ist klar, dass dies meine Eintrittskarte in die Zukunft ist."
Maksym hat bereits einen Antrag auf vorübergehenden Schutz gestellt und ist in einem Lager untergebracht. Nun will er Deutsch lernen, dann studieren oder arbeiten. "Ich bin hierher gekommen, um eine Ausbildung zu machen, wenn nicht als Elektroingenieur, dann in einem Beruf, der die Lebensqualität der Menschen erhöht und dieses Land besser macht", sagt er.
Während der letzten zwei Jahre arbeitete Maksym in Kyjiw als Kurier. Sein Vater starb vor sieben Jahren, daher lebte er allein mit seiner Mutter, die als Reinigungskraft tätig ist. "Ich bin auch nach Deutschland gekommen, um meiner Mutter zu helfen", erklärt Maksym.
Serhij: "Mit 23 oder 24 Jahren steckt man in einer Art Pufferzone"
Der 22-jährige Serhij, der ebenfalls vor Kurzem nach Deutschland gekommen ist, stammt ursprünglich aus dem Donbass und ist seit 2014 auf der Flucht vor Russlands Krieg. In Donezk lebte er nur zwei Kilometer vom Flughafen entfernt und erlebte damals noch als Kind den Kriegsbeginn hautnah mit. Anschließend zog er in die Stadt Schachtarske in der Region Dnipropetrowsk. Während seiner Schulzeit besuchte er regelmäßig evangelische Gottesdienste und entdeckte gleichzeitig seine Leidenschaft für Videoproduktion und Regie. Heute arbeitet er als freiberuflicher Motion-Designer.
Die Entscheidung, die Ukraine zu verlassen, sei ihm schwergefallen, sagt Serhij. Legale Ausreisemöglichkeiten für Männer seien begrenzt, und nach dem 22. Lebensjahr sei es noch komplizierter. Ihm sei klar geworden, dass dies seine letzte Chance sei, legal auszureisen. "Mit 23 oder 24 Jahren steckt man in einer Art Pufferzone. Man kann dann nicht einfach ausreisen, man versteckt sich aber auch nicht, gleichzeitig rückt eine Einberufung zur Armee immer näher", sagt er. Ein Einsatz im Krieg ist in der Ukraine ab einem Alter von 25 Jahren möglich.
Serhij hat in Deutschland Freunde, die die Ukraine früher verlassen haben. Deshalb entschloss er sich, auch nach Deutschland zu gehen, wo er sich nun einlebt. Er füllt Anträge aus und sucht einen Job, um eine Wohnung mieten zu können. Später möchte er seine Familie - seine Mutter, seinen Bruder und seine Schwester - nachholen. In die Ukraine möchte er in den nächsten zehn Jahren nicht zurückkehren. Heimweh habe er nicht. "Ich bin sehr oft umgezogen, und leider hatte ich nicht so etwas wie ein richtiges Zuhause", erzählt Serhij, der seit Kriegsbeginn im Jahr 2014 schon sechsmal umgezogen ist.
Viktor: "Das Einberufungsalter könnte herabgesetzt werden"
Der 18-jährige Viktor aus dem Dorf Hryhoriwka in der Region Kyjiw kam Ende August mit seiner Freundin nach Berlin, wo sie vorübergehenden Schutz beantragt haben. Von Berlin aus setzt Viktor online sein Studium an der Kyjiwer Universität für Kultur fort und träumt davon, Schauspieler zu werden.
Eigentlich wollte er noch vor seinem 18. Geburtstag ausreisen, zögerte aber. Die Ukraine verlassen habe er letztlich aus "Kriegsangst" und der "Furcht vor einer Einberufung". Zwar würden Männer unter 25 Jahren nicht einberufen, doch das könne sich jederzeit ändern, meint er. "Ich habe Meldungen gelesen, wonach das Einberufungsalter herabgesetzt werden könnte. In unserem Land können alle möglichen Gesetze beschlossen werden, auch dass man schon mit 18 Jahren einberufen werden kann", so Viktor.
Seine Eltern leben noch in der Ukraine - seine Mutter arbeitet als Krankenschwester, sein Vater ist aus gesundheitlichen Gründen seit Jahren arbeitslos. Viktor findet, es sei schwieriger als gedacht, sich in Deutschland einzuleben. Zunächst möchte er Deutsch lernen, dann einen Studienplatz bekommen oder einen Job finden. Momentan habe er es noch schwer: "Hier ist alles sehr bürokratisch und man leidet unter der Sprachbarriere."
Aufbau einer Zukunft in Deutschland
Die Ausreiseerlaubnis für Männer unter 22 Jahren aus der Ukraine sorgte für gemischte Reaktionen. Kritiker meinen, die Ukraine könne es sich nicht leisten, ihre junge Generation zu verlieren, insbesondere in Zeiten der Mobilmachung. Und in sozialen Medien werden junge Männer, die das Land verlassen, oft als "Deserteure" oder "Verräter" beschimpft, obwohl sie legal ausreisen.
"Alle meine Freunde in der Ukraine freuen sich für mich", erzählt Maksym und fügt hinzu: "Nicht einmal diejenigen, die in der ukrainischen Armee dienen, haben mir gesagt, ich würde das Land im Stich lassen und müsste kämpfen." Laut Maksym saßen im Bus, mit dem er aus der Ukraine ausreiste, nur wenige Männer in seinem Alter. Wer diesen Schritt wage, so Maksym, sehe darin eine Chance, sei aber durchaus bereit zurückzukehren, sollte sich die Integration im Ausland als zu schwierig erweisen. Bei einer Rückkehr könnte das in Deutschland erworbene Wissen in der Ukraine Anwendung finden, glaubt Maksym.
Serhij erzählt, in seinem Bus hätten acht weitere junge Männer gesessen. Nach der Passkontrolle seien alle sehr glücklich gewesen. "Als wir durch waren, riefen alle: Hurra, wir haben es geschafft!", so Serhij.
Trotz ihrer unterschiedlichen Lebensumstände wollen alle drei jungen Männer - Maksym, Serhij und Viktor - nun in Deutschland eine Existenz aufbauen. Aktuellen Umfragen zufolge will in der Ukraine mehr als jeder fünfte ukrainische Teenager ins Ausland ziehen, während 52 Prozent in der Ukraine bleiben wollen.
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk