Warum immer mehr Türken Deutsche werden
19. Juni 2025
Deutschland wird für türkeistämmige Menschen immer attraktiver - sei es zum Leben, Studieren oder Arbeiten. Im Jahr 2024 haben laut statista 22.525 türkische Staatsangehörige die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen; ein Anstieg von rund 110 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In der Liste der Herkunftsländer liegt die Türkei damit hinter Syrien auf Platz zwei.
Auch Alaz Sümer entschied sich für die Einbürgerung. Schon vor rund acht Jahren kam er für ein Masterstudium nach Deutschland. Nun arbeitet der Jurist für eine Nichtregierungsorganisation in Berlin und promoviert im Bereich Verfassungsrecht.
Im Gespräch mit der DW sagt er, das Ziel jedes Migranten sei die Staatsbürgerschaft - schon allein aus praktischen Gründen. "Andernfalls muss man sich ständig mit der Bürokratie auseinandersetzen - und die ist hier wirklich sehr streng. Schon eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, kann eine große Tortur sein."
Burak Keceli, Informatiker und Absolvent der renommierten Istanbuler Bogazici-Universität, kam 2016 nach Deutschland. Nach einigen Jahren in der Privatwirtschaft lebt er weiterhin in Berlin - ursprünglich kam er der Karriere wegen.
Rückblickend sagt er: "Ich lebe seit Jahren in Deutschland und spreche die Sprache fließend. Nach so langer Zeit wollte ich auch politisch mitbestimmen können. Der starke deutsche Pass war ebenfalls ein wichtiger Faktor: Mit ihm kann ich visafrei in viele Länder reisen."
Laut dem Global Passport Index 2025 liegt der deutsche Reisepass weltweit auf Platz fünf - hinter den Pässen der Vereinigten Arabischen Emirate, Spaniens, Singapurs und Frankreichs. Mit einem deutschen Pass kann man visafrei in 122 Länder reisen, mit einem türkischen lediglich in 69.
Doppelte Staatsbürgerschaft als wichtiger Anreiz
Auch die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Juni 2024 dürfte zu einem rasanten Anstieg geführt haben, für viele Zugewanderte ist die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft ein ausschlaggebender Grund für ihre Einbürgerung. Auch Alaz Sümer wollte seinen türkischen Pass nicht aufgeben: "Ich wollte mein Wahlrecht nicht verlieren", sagt er. Der türkische Pass biete zudem Vorteile bei Reisen in Länder, mit denen die Türkei enge Beziehungen pflege - Vorteile, die der deutsche Pass nicht habe.
Auch Burak Keceli ist Doppelstaatler. Die Möglichkeit zur doppelten Staatsbürgerschaft bezeichnet er als "sehr positiv". Selbst ohne diese Option hätte er sich wohl für den deutschen Pass entschieden, sagt er.
Die frühere Ampel-Regierung hatte zudem die für eine Einbürgerung erforderliche Aufenthaltsdauer von acht auf fünf Jahre verkürzt. Wer besondere Integrationsleistungen nachwies, konnte bereits nach drei Jahren eingebürgert werden. Die neue Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD schaffte diese Drei-Jahres-Regel im Mai jedoch wieder ab.
Bestehen bleibt aber die Möglichkeit, die ursprüngliche Staatsbürgerschaft zu behalten - ein Recht, das für viele Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland von großer Bedeutung ist.
Bis vor Kurzem war es - mit Ausnahme von EU-Bürgern und Schweizern - notwendig, die bisherige Staatsangehörigkeit aufzugeben. Viele verzichteten deshalb auf die deutsche Staatsbürgerschaft, da sie emotionale, familiäre oder wirtschaftliche Bindungen zu ihrem Herkunftsland hatten. In Deutschland leben schätzungsweise über drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln.
Politischer Druck und Inflation: Die Lage in der Türkei
Auch die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation in der Türkei habe bei vielen Einbürgerungen eine zentrale Rolle gespielt. "Ich wollte eigentlich Akademiker werden", sagt Sümer. "Aber ich hatte das Gefühl, dass das in der Türkei nicht frei möglich ist. Als sich die Lage weiter verschlechterte, bin ich geblieben."
Keceli ergänzt: "In der Türkei hätte ich kein angenehmes Leben führen können. Wenn ich mich für ein anderes Land entschieden hätte, hätte ich vermutlich auch dessen Staatsbürgerschaft angenommen."
In der Türkei wächst der politische Druck seit Jahren stetig. Menschenrechtsorganisationen berichten regelmäßig von Verletzungen der Meinungs- und Pressefreiheit. Zuletzt erregte die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu im März Aufsehen - ein drastischer Schritt der Erdogan-Regierung. Imamoglu gilt als aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat der Opposition und möglicher Nachfolger Erdogans.
Zudem leidet das Land seit Jahren unter einer schweren Wirtschaftskrise: 2015 kostete ein Euro etwa 2,3 Türkische Lira. Heute muss man für einen Euro rund 45,56 Lira bezahlen.
"Heimat" bleibt die Türkei
Trotz Einbürgerung und jahrelangem Leben in Deutschland empfinden sich viele türkeistämmige Deutsche weiterhin als Teil der türkischen Kultur - und nennen die Türkei ihre Heimat.
"Deutschland ist nicht meine Heimat geworden. Ich würde mich nicht als Deutscher bezeichnen. Selbst wenn ich das täte - die Deutschen würden lachen, und zwar zurecht", sagt Sümer.
Keceli sieht das ähnlich: "Ich habe in der Türkei noch meine Liebsten. Diese Verbindung ist nie abgebrochen. Ich werde weiterhin regelmäßig hin- und herreisen. Auch wenn ich nicht mehr alles verfolge - türkische Musik höre ich immer noch. Ich würde die Türkei immer noch als meine Heimat bezeichnen. In Deutschland fühle ich mich nicht wirklich zu Hause."
Nicht deutsch genug?
Sümer betont, dass ihm das Leben in Deutschland "meistens gefällt", aber er sich der Gesellschaft nicht wirklich zugehörig fühle. "Ich glaube nicht, dass man durch den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft automatisch akzeptiert wird - das war bei mir auch nicht der Fall."
Er schildert Erfahrungen, die viele mit Migrationsgeschichte machen: "Ich fühle mich der Türkei näher als Deutschland. Mir ist klar, dass ich nur auf dem Papier Deutscher bin. Selbst wenn man nach deutschen Standards lebt und sich anpasst - man bleibt ein Migrant."
Sümer berichtet auch von Diskriminierung im Alltag. Nach seiner Einbürgerung suchte er eine Wohnung, erhielt aber auf Online-Bewerbungen mit seinem echten Namen keine Antworten. Erst nachdem er seinen Nachnamen geändert hatte, kam es zu Rückmeldungen. "Wenn dein Name kein deutscher Name ist, bringt dir auch der deutsche Pass nichts", sagt er.