Warum ist gerade der Donbass so wichtig?
9. Juni 2022Dieser Artikel vom 21.04.2022 wurde am 09.06.2022 aktualisiert.
Das Schicksal des Donbass im Osten der Ukraine entscheidet sich mit der Schlacht um die Industriestadt Sjewjerodonezk - das hat Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videobotschaft erklärt. Mehr als drei Monate dauern die schweren Gefechte mit russischen Truppen. Nun könnte die Einnahme der strategisch wichtigen Stadt das Ringen um die Region entscheiden. Doch warum gerade der Donbass?
Haben die Gebiete ein anderes Verhältnis zu Russland als die übrige Ukraine?
Die Verwaltungseinheiten (Oblaste) Luhansk und Donezk gehören - wie auch die Halbinsel Krim - zu den ukrainischen Gebieten, in denen besonders viele Menschen Russisch als Muttersprache angeben. Auch der Anteil ethnischer Russen ist hier vergleichsweise hoch. Ähnliches gilt für die angrenzenden Oblaste Saporischschja und Charkiw sowie Odessa. Ethnische Russen stellen allerdings ausschließlich auf der Krim die Mehrheit der Bevölkerung.
Nach der Orangenen Revolution im Anschluss an die Präsidentschaftswahlen 2004 und nach den Protesten des Euromaidan 2014 war hier der Widerstand gegen eine Westausrichtung der Ukraine besonders groß, eine Mehrheit fand er allerdings wohl nicht. Dennoch erkämpften militante russische Separatisten - mutmaßlich mit Unterstützung aus Moskau - die Kontrolle über Teile der Region. Gleichzeitig nutzte der Kreml das Machtvakuum in Kiew, um die Halbinsel Krim zu annektieren. "Es sind zwei der vielen Beispiele, in denen die Russen nach dem Prinzip 'Gelegenheit macht Diebe' verfahren haben", sagt Andreas Heinemann-Grüder, Osteuropa-Spezialist am Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC). Ein groß angelegter Plan habe nicht dahintergesteckt.
Wie lässt sich das historisch erklären?
Der Donbass war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts kaum besiedelt. Dann wurde er wegen seiner Kohlevorkommen zum bedeutendsten Zentrum der russischen Industrialisierung. "In dieser Zeit wurde im Russischen Reich der öffentliche Gebrauch der ukrainischen Sprache unterdrückt und Russisch setzte sich als Bildungssprache immer mehr durch", erklärt der Historiker Guido Hausmann vom Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) der Universität Regensburg. "Zum anderen strömten auch viele russische Bauern in das neue Industrierevier."
Während der kurzen Unabhängigkeit der Ukraine 1918 gehörte der Donbass noch nicht dazu. Dies änderte sich, als die UdSSR das Land zur Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik machte. Zu Sowjetzeiten dann wurden weitere Russen in der Region angesiedelt. Insofern empfänden tatsächlich relativ viele Menschen dort eine Bindung zu Russland oder eher sogar noch zur Sowjetunion, erklärt Hausmann: "Trotzdem sprachen die Menschen des Donbass immer auch ukrainisch und die Mehrheit hat bis heute eine starke Bindung an die Ukraine."
Auch Politologe Heinemann-Grüder hält die Annahme, dass die Ethnie oder die Muttersprache in der ukrainischen Bevölkerung Aufschluss über die nationale Identität zuließen, für vollkommen irreführend: "Selbst in einigen Bataillonen der ukrainischen Armee, die 2014/2015 gegen die Separatisten kämpften, sprach man Russisch." Mittlerweile sei dies wohl nicht mehr der Fall, wie auch sonst der Gebrauch der russischen Sprache in den vergangenen Jahren stärker zurückgegangen sei: "Wenn es irgendeinen Beitrag zur Bildung der ukrainischen Nation gegeben hat, sind es die russischen Aggressionen in den vergangenen acht Jahren", sagt Heinemann-Grüder. "Die russischen Bomben haben die Ukraine erst recht geeint."
Stehen auch wirtschaftliche Interessen hinter dem Vorstoß in die Ostukraine?
Für die Sowjetunion wurden nach dem Zweiten Weltkrieg sibirische Industrieregionen wichtiger als der Donbass, für die Ukraine dagegen war der Donbass bis 2014 die wichtigste Industrieregion. Mit dem Konflikt dort hat ihre Bedeutung jedoch abgenommen. Viele Bergwerke - insbesondere in den Separatistengebieten - sind verwaist oder in sehr schlechtem Zustand. Mit dem Krieg wurden weitere Industrieanlagen und Infrastrukturen zerstört.
Für Russland sei die Wirtschaftskraft der Region nicht entscheidend, sagt Historiker Hausmann, wohl aber für die Ukraine und ihre wirtschaftliche Selbständigkeit: "Ein entscheidendes Kriegsziel Russlands ist es, die Ukraine auf Dauer von Russland abhängig zu machen - politisch, kulturell und auch wirtschaftlich."
Welche Bedeutung hat der Donbass symbolisch und ideologisch?
Im Donbass herrscht bereits seit acht Jahren Krieg: 2014 proklamierten die prorussischen Separatisten dort die Oblaste Luhansk und Donezk als unabhängige "Volksrepubliken". Nach einer Phase mit offenen Gefechten zwischen Separatisten und der ukrainischen Armee wurde mit dem Zweiten Minsker Abkommen 2015 ein brüchiger Waffenstillstand vereinbart. Beschlossen wurde außerdem eine "Kontaktlinie", die die ukrainisch kontrollierten Teile von den Separatistengebieten in der Grenzregion zu Russland trennt.
Am 21. Februar 2022 dann - drei Tage vor dem Überfall auf die Ukraine - erkannte Russland diese "Volksrepubliken" offiziell an. "Damit meinte die russische Regierung den gesamten Donbass", stellt BICC-Experte Heinemann-Grüder klar. Russland müsse also nun das gesamte Gebiet erobern, um die Annexion umzusetzen, die sie mit der Anerkennung vorbereitet hätten, meint der Politologe: "Damit könnten sie dann vor dem heimischen Publikum einen Sieg erklären und den Krieg möglicherweise beenden."
Zudem kämpfen in diesen Gebieten ukrainische Kampfverbände mit rechts-nationalistischer Ausrichtung, allen voran das Asow-Regiment, das schon 2014 half, die Einnahme von Mariupol durch die Separatisten zu verhindern. "Mit einem Sieg über diese Truppen könnte Putin den Vollzug der angeblichen Entnazifizierungs-Mission - zumindest im Donbass - erklären", meint Heinemann-Grüder. Der Kreml behauptet, in der Ukraine gelte es unter anderem, ein nationalsozialistisches Regime zu bekämpfen. Auch die Einnahme der Industrie- und Hafenstadt Mariupol, die nach Wochen der Belagerung und des Beschusses zum Sinnbild der ukrainischen Durchhaltekraft geworden war, ist ein symbolträchtiger Erfolg.
Welche strategische Bedeutung hat der Donbass?
"Der Ausgang des Krieges im Donbass wird darüber bestimmen, was von der Ukraine übrigbleibt", meint Heinemann-Grüder. Mit der Annexion der Krim hat Moskau nicht nur den ehemaligen Heimathafen der einst stolzen russischen Schwarzmeerflotte erobert. Russland hat auch erstmals seit dem Ende der Sowjetunion wieder einen ganzjährig eisfreien Seehafen nahe dem europäischen Teil des Landes.
Allerdings ist die Krim bisher eine Exklave. Mit dem russischen Festland ist sie nur über die 2018 eröffnete Krim-Brücke über die Straße von Kertsch zwischen dem Asowschen und dem Schwarzen Meer verbunden. Mit der Eroberung des gesamten Donbass inklusive Mariupol hätte Russland der Ukraine einen weiteren wichtigen Hafen mit Verbindung zur Krim und zum Mittelmeer entrissen.
Je nachdem, in welchem Zustand sich dann die Armeen und ihre Nachschubwege befinden, meint Heimann-Grüder, könnte Russland die nächsten Ziele ins Visier nehmen, insbesondere die Landverbindung entlang der Küste zur Krim. Hieraus könnten sich wiederum neue militärische Perspektiven ergeben. "Wenn Putin die Gelegenheit sieht, die Ukraine als selbständigen Staat aufzulösen, wird er sie wahrnehmen", vermutet der Politologe. Insofern stelle sich für die ukrainische Regierung die Frage: "Müssen wir, um Kiew zu retten, den Donbass preisgeben?"