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Politik

Warum Mütter russischer Kriegsdienstverweigerer schweigen

6. Oktober 2022

Hunderttausende Russen fliehen vor der Mobilmachung. Warum gibt es keine Proteste von Frauen? "Wir verurteilen diesen Krieg und können nichts ändern", sagt die Mutter eines Betroffenen im DW-Interview.

BdTD | Russland - Rerservisten verabschieden sich von der Familie, St. Petersburg
Einberufen für die "Spezialoperation" in der Ukraine: Russische Reservisten verabschieden sich von der FamilieBild: AFP/Getty Images

Seit Beginn der von Präsident Wladimir Putin angeordneten Teilmobilmachung in Russland fliehen Hunderttausende Männer, die nicht in der Ukraine kämpfen wollen, in Russlands Nachbarstaaten, darunter Georgien, Kasachstan und Belarus. Viele von ihnen warten nicht auf die offizielle Einberufung, sondern verlassen das Land so schnell es geht. Die bisherigen Proteste gegen die Mobilmachung in mehreren russischen Regionen wurden von der Polizei massiv unterdrückt.

Die DW hat mit der Mutter eines geflohenen Kriegsdienstverweigerers über ihre Sorgen gesprochen. Irina Ivanova aus Moskau (der Name wurde aus Sicherheitsgründen geändert) berichtet über die Mobilmachung und erklärt, warum es in Russland nicht zu Protesten von Müttern und Frauen kommt.

Deutsche Welle: Können Sie uns sagen, wo Ihr Sohn jetzt ist?

Irina Ivanova: Mein Sohn ist in Kasachstan und damit beschäftigt, sein Leben dort auf absehbare Zeit zu organisieren. Vielleicht wird er bei Konsulaten anderer Länder Visa beantragen.

Hat er Russland wegen eines Einberufungsbescheids verlassen?

Nein. Wir haben nicht so lange gewartet, denn er könnte zu den Ersten gehören, die einberufen werden. Er ist etwa 30 Jahre alt, studiert und hat in der Armee gedient. Anfangs hieß es, Studenten würden nicht eingezogen. Doch es kamen immer wieder Leute von den Einberufungsämtern und der Polizei zur Universität. Daher haben wir uns über Nacht für eine Ausreise entschieden. Mein Sohn hat Tickets gekauft und ist in eine Stadt an der Grenze zu Kasachstan gefahren. Wir wussten, dass es dort noch möglich war, die Grenze legal zu überqueren. Eine Freundin von mir half ihm und wartete, bis er alle Kontrollen passiert und auf der anderen Seite in ein Auto gestiegen war.

Russische Flüchtlinge in Kasachstan - Warteschlange in der Nähe eines Bürgerservicezentrums in AlmatyBild: Madija Torebaewa/DW

Hunderttausende Russen suchen in Nachbarländern Zuflucht. Warum war die Mobilmachung so ein Schock? Davor haben die Menschen sieben Monate lang so gelebt, als gäbe es keinen Krieg in der Ukraine.

Das stimmt nicht. Jeder weiß, dass in der Ukraine Krieg ist. Aber jeder hat seinen Alltag. In den Krieg in der Ukraine sind Menschen gezogen, die sich aus verschiedenen Gründen dazu entschieden hatten - aus ideologischen, finanziellen oder aus irgendwelchen inneren Überzeugungen heraus. Nun haben die Behörden über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden, und viele sind damit nicht einverstanden. Um sich nicht an all dem zu beteiligen, fliehen sie.

Was halten Sie davon, dass einige europäische Länder ihre Grenzen für russische Staatsbürger schließen?

Einerseits sind ihre Befürchtungen nachvollziehbar. Auf der anderen Seite bin ich enttäuscht darüber, dass die Einreise allen Russen verwehrt wird und nicht nur denjenigen, die an all dem schuld sind. Die Leute werden vor allem aus Angst und aufgrund des politischen Boykotts abgelehnt. Demnach ist Russland der Aggressor und somit alle Russen Aggressoren. Aber man muss jeden einzelnen Menschen betrachten - mich, meinen Sohn, meine Freunde, die Söhne meiner Freunde. Sie sind keine Aggressoren und Eindringlinge. Sie protestieren auf jede erdenkliche Weise dagegen. Das ist das Verhängnis von allen, die mit der russischen Politik nicht einverstanden sind.

Viele Menschen im Ausland meinen, die Russen sollten vor diesem Problem nicht weglaufen, sondern dagegen kämpfen.

Ich sehe keine Möglichkeit, dass die Menschen selbst beenden, was hier passiert. Wie sollen wir das tun? Die Männer fliehen, weil sie sich ihre Hände nicht mit Blut beflecken wollen. Geblieben sind Frauen, wie ich. Was sollen wir tun? Vielleicht wird man uns noch zur Rebellion treiben, und es gibt einen Aufstand der Frauen. Die Geschichte kennt viele Beispiele. 

Lange Schlangen an der Grenze zu Georgien bei der Einreise aus Russland Ende September Bild: AP/picture alliance

Fast alle Männer, die fliehen, sind Ehemänner und Söhne. Größere Proteste von Frauen gab es nur in Dagestan und Jakutien. Warum nicht in Großstädten wie Moskau?

Meine Freunde, Kollegen und ich sprechen ständig darüber. Obwohl wir unterschiedliche Meinungen dazu haben, sind wir uns in einem einig: Wir sind für unsere Kinder verantwortlich. Ich bin zu allen Protesten, Mahnwachen und Demonstrationen gegangen. Dabei habe ich immer darauf geachtet, nicht unter die Schlagstöcke der Polizei zu kommen, weil ich noch zwei weitere Kinder habe, die minderjährig sind. Es gibt Millionen Menschen wie mich. Sollten wir aus irgendeinem Grund nicht mehr da sein, dann würde auch das Leben unserer Familien und unserer Kinder zerstört. In kleinen Republiken wie Dagestan oder Jakutien sind Familien und Clans sehr ausgeprägt. Moskauer wie ich haben niemanden, der hinter uns steht. Wir wollen nicht so leben, wie wir heute leben müssen, aber wir können nichts daran ändern. Das ist unsere größte Tragödie und unser größtes Unglück.

Welche Reaktionen auf die Mobilmachung beobachten Sie in Ihrem Freundeskreis und im ganzen Land?

In meinem Freundeskreis sind alle entsetzt und verurteilen diesen Krieg. Ich hasse die Staatsmacht, die mein Heimatland an sich gerissen hat. Dies sage ich schon seit 20 Jahren. Andererseits weiß ich, dass in der Provinz, wo Informationen nur in verdrehter Form und nur über den staatlichen Rundfunk ankommen, ganz andere Ansichten herrschen. Diese Menschen sind bereit, all dies zu unterstützen. Wir fühlen uns in der Minderheit.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Landes und Ihre persönliche Zukunft?

Ich sehe überhaupt keine Zukunft im heutigen Russland. Wir haben keine einzige Führungspersönlichkeit, der wir folgen würden. Sie wurden alle beseitigt. Niemand versucht mehr, ein Anführer zu werden. Wir haben keine Einflussmöglichkeiten mehr. Wir haben nur noch unsere Ablehnung und unseren Widerstand gegen alles. Uns bleibt nur der Versuch, wenigstens einen Teil unserer Familie und einen Teil von uns selbst zu retten.

Das Gespräch führte Marina Baranovska. Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk.

 

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