Warum Nofretete zum Mythos wurde
3. Juli 2023Stolz und unnahbar scheint Nofretete in die Ferne zu blicken. Man weiß nicht viel über diese Frau, die vor rund 3500 Jahren im alten Ägypten lebte. Ihr Name bedeutet: "Die Schöne ist gekommen". Doch war sie groß oder klein, war sie streng, großherzig oder überheblich? All das liegt im Dunkel der Geschichte. Es gibt keine Berichte von Zeitzeugen, kein Papyrus erzählt aus ihrem Leben. Nur ein paar antike Reliefs und Inschriften geben einige Details über die geheimnisvolle Nofretete preis.
Bekannt ist, dass sie in jungen Jahren, vermutlich im Alter zwischen zwölf und 15, die Gemahlin Amenophis IV. wurde. Er bekam den Beinamen "Ketzerpharao", weil er die Vielgötterei abschaffte und fortan nur noch dem Lichtgott Aton huldigte, dargestellt als strahlende Sonnenscheibe. Auch seinen Namen änderte er: Aus Amenophis wurde Echnaton ("Der dem Aton dient"), Nofretete wurde zu Neferneferuaton ("Schön ist die Schönheit des Aton"). Sie trug den Titel "Große königliche Gemahlin" und stand gleichberechtigt an der Seite ihres Mannes, so Olivia Zorn, stellvertretende Direktorin des Ägyptischen Museums Berlin, das Teil des Neuen Museums ist. "Sie haben mit dem Gott Aton eine Triade, also eine Dreiheit gebildet. Aton, Echnaton und Nofretete waren quasi eine Regierungseinheit", sagt sie der DW.
Eine neue Stadt für den Gott Aton
Um 1350 v. Chr. verließ das Herrscherpaar die Hauptstadt Theben und ließ innerhalb kürzester Zeit die 50.000-Einwohner-Stadt Achet-Aton ("Horizont des Aton") als neues Königsdomizil errichten. Der Standort: ein von steilen Felsen geschütztes Tal, die Ebene von Amarna.
Auch einen Tempel ließ Echnaton seinem Gott in Rekordzeit bauen, den Gem-pa-Aton ("Gefunden ist der Aton"). Mit dem von oben angeordneten Monotheismus schuf sich das Herrscherpaar allerdings mächtige Feinde. Tausende von Priestern wurden arbeitslos. Im 17. Regierungsjahr starb Echnaton. "Was mit Nofretete passiert ist, weiß man nicht", sagt Zorn. Vielleicht habe Nofretete nach seinem Tod selbst eine Zeitlang unter dem Namen "Semenchkare" regiert. "Sie kann aber auch durchaus vor ihm gestorben sein."
"Lebensvollstes ägyptisches Kunstwerk"
Klarheit über die Geschichte gibt es erst wieder in der nächsten Pharaonendynastie unter dem legendären Tutanchamun. Er und seine Berater ließen die alten Götter wieder auferstehen. Echnatons Bauwerke zu Ehren Atons wurden bis auf die Fundamente abgerissen und als Steinbruch genutzt. Auch die neue Hauptstadt Achet-Aton zerfiel - und vielleicht hätte man nie etwas von Nofretete gehört, wäre der deutsche Architekt und Ägyptologe Ludwig Borchardt nicht Anfang des 20. Jahrhunderts nach Ägypten gereist, um der geheimnisvollen Stadt in Amarna auf die Spur zu kommen.
Er suchte im Auftrag Kaiser Wilhelms II. nach Objekten für die Königlichen Museen in Berlin. Am 6. Dezember 1912 stießen er und sein Grabungsteam auf die Werkstatt eines Bildhauers, der im Jahre 1300 v. Chr. für den Königshof gearbeitet haben könnte. Unter den Schuttbergen fanden sich zahlreiche Büsten, darunter eine mit dunkelblauer Helmkrone. Die Ohren der Figur waren bestoßen, die Augen mit Kajal umrandet. Im linken Auge fehlte die Iris, aber sonst war das Objekt vollständig erhalten. Borchardt war begeistert: "Wir hatten das lebensvollste ägyptische Kunstwerk in Händen" notiert er. "Lebensgroße bemalte Büste der Königin, 47 cm hoch. … Arbeit ganz hervorragend. Beschreiben nützt nichts, ansehen."
Nofretetes Kronenhaube gehörte im alten Ägypten zum gängigen Kopfschmuck, ebenso wie voluminöse Perücken. Höchstwahrscheinlich war der Kopf der Königin darunter kahlgeschoren, das war angesichts der schweren Kopfbedeckungen praktischer, außerdem konnten sich so keine Läuse einnisten. Hatte sie auch Schminktiegel, um ihre Schönheit zu unterstreichen? "Make-up im heutigen Sinne gab es damals noch nicht", erklärt Olivia Zorn. "Aber man hat die Augen geschminkt, mit diesem schönen Lidstrich verziert. Er hatte auch eine antiseptische Wirkung, denn er hielt Bakterien ab, die zu Infekten in den Augen und zu Blindheit führen konnten."
Aufgeteilte Antiquitäten: Nofretete gegen ein Altarbild
Borchardt brachte die Büste der Nofretete mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Orient-Gesellschaft, die seine Mission in Ägypten finanzierte, nach Berlin. Gemäß den damals geltenden Bestimmungen wurden alle antiken Funde zu gleichen Teilen zwischen Ägypten und dem Land aufgeteilt, das die Ausgrabungen durchführte. Borchardt vertrat also das Deutsche Reich.
Gaston Maspero, der Direktor des unter französischer Obhut stehenden Antikendienstes, beauftragte seinen Mitarbeiter Gustave Lefebvre mit der Regelung der Fundteilung. Der eine Teil enthielt unter anderem die Büste der Nofretete, der zweite ein Altarbild, das das Königspaar Echnaton und Nofretete mit dreien seiner Kinder zeigt.
Da das Kairoer Museum bis dahin kein Altarbild besaß, entschied man sich gegen die Büste. Später wurde Borchardt vorgeworfen, er habe die Büste nur im Zwielicht präsentiert, damit sie bei Lefebvre keine Begehrlichkeiten weckte.
Nofretete entspricht modernem Schönheitsideal
Und so ging die schöne Ägypterin auf Reisen nach Berlin, wo sie erst 1924 der Öffentlichkeit präsentiert wurde - und einen regelrechten Nofretete-Boom auslöste. Sie wurde zum Covergirl der Illustrierten und zur Werbeikone für Kosmetik, Parfüms und Schmuck, aber auch für Bier, Kaffee oder Zigaretten. Jahrtausende lang im Wüstensand verschollen, wurde Nofretete wieder zum bewunderten Idol - wie vermutlich schon zu Lebzeiten.
"Sie entsprach schon Anfang des 20. Jahrhunderts dem heutigen modernen Schönheitsideal mit hervortretenden Wangenknochen und dem fein gezeichneten Gesicht", sagt Zorn. Und fügt hinzu: "Ob es auch das Schönheitsideal von vor knapp 3500 Jahren war, kann man natürlich heute nicht mehr ganz genau sagen."
Die Geheimnisse der Nofretete-Büste
Die bunte Büste ist nicht das einzige Abbild der Nofretete, das gefunden wurde. Antike Reliefs zeigen sie bei religiösen Zeremonien Hand in Hand mit Echnaton oder als sorgende Mutter ihrer sechs Töchter. Und es gibt weitere Statuen: "Alle entsprachen dem subjektiven Bild des Künstlers, also dem, was er schön fand - oder er hat realisiert, was er vom König oder von hohen Beamten gesagt bekommen hat. Doch zeigt das wirklich die wahre Nofretete?"
Im Inneren der Büste versteckt sich ein Kalksteinkern, auf dem der Bildhauer Nofretetes Antlitz modellierte. Anhand von Computertomographie-Aufnahmen aus dem Jahr 2007 weiß man, dass die Königin wohl sehr viel hagerer war und deutliche Falten hatte. "Darüber hat der Künstler eine hauchdünne Gipsschicht gelegt, die quasi wie eine gute Make-up-Grundierung funktioniert und Unebenheiten kaschiert", sagt Zorn.
Einäugig war Nofretete wohl nicht, aber Olivia Zorn hat eine Vermutung, warum der berühmten Büste ein Auge fehlt. "Sie ist ja lediglich ein Modell; das heißt, sie wurde vom Künstler genutzt, um weitere Statuen der Königin zu schaffen. Er hat also wahrscheinlich eine Augeneinlage nicht eingesetzt, um verschiedene Materialien testen zu können", erklärt sie.
Das Problem mit der authentischen Nase
Um eine genauere Rekonstruktion des wahren Gesichts Nofretetes zu bekommen, bräuchte man ihre Mumie. "Doch bislang ist die Mumie der Nofretete noch nicht eindeutig identifiziert, auch wenn es immer wieder Ansätze gab", so Zorn. Und sollte man die Mumie wirklich eines Tages einwandfrei zuordnen können, gäbe es immer noch Ungenauigkeiten. "Mumien sind natürlich eingefallen. Es sind nur die Knochen und die Haut vorhanden, und das Schwierige bei einer Gesichtsrekonstruktion ist in der Regel die Nase."
Natürlich gebe es Wissenschaftler, die genau sagen könnten, wieviel Fleisch unter dieser Haut war. "Aber eine Nase eindeutig zu rekonstruieren, halte ich mit den heutigen Möglichkeiten für nicht machbar. Allerdings könnte man sicherlich aus jeder Mumie eine Nofretete machen - zumal es wahrscheinlich ist, dass man sich bei der Arbeit von der Büste der Nofretete, dem Bild also, das man im Kopf hat, beeinflussen lässt." Eine objektive Rekonstruktion sei das dann nicht mehr.
Wie Nofretete also wirklich aussah, kann man fast 3500 Jahre nach ihrem Tod nicht mehr sagen. Und so bleibt sie dank der Büste als ungewöhnliche Schönheit in den Köpfen der Menschen.
Wem gehört die Büste?
In Ägypten hätte man die berühmte Botschafterin des Landes gern zurück, doch in Berlin sieht man keine Veranlassung dazu. "Es gibt absolut keine Restitutionsansprüche. Die rechtliche Lage ist eindeutig", sagt die stellvertretende Direktorin des Ägyptischen Museums - schließlich sei die Büste dem deutschen Ägyptologen Ludwig Borchardt vor 100 Jahren per Vertrag zugesprochen worden.
Aus heutiger Sicht stellt sich allerdings die Frage, ob Ägypten überhaupt ein Mitspracherecht hatte, stand das Land doch unter britischer Kolonialherrschaft und die Antikenbehörde unter französischer Leitung. Doch Olivia Zorn schickt gleich noch ein Argument hinterher, um den Anspruch zu festigen: "Die Büste ist schon aus konservatorischen Gründen nicht reisefähig. Wenn wir sie auf Reisen schicken, gehen wir die Gefahr ein, dass sie nicht heil ankommt. Und ich glaube, das möchte keiner."
So wird Nofretete wohl erst mal weiter in Berlin Hof halten.