Warum verlässt Ungarn den Internationalen Strafgerichtshof?
3. April 2025
Eines kann man dem ungarischen Ministerpräsidenten nicht vorwerfen - halbherzig und wankelmütig zu handeln. In seiner politischen Taktik setzt der Fußballnarr Viktor Orban meistens auf Angriff statt auf Verteidigung, und wenn die Schlagzeilen über ihn besonders negativ sind, gießt er mitunter absichtlich noch mehr Öl ins Feuer der Empörung.
So zumindest verhielt er sich auch, noch bevor der Besuch des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu in Budapest am Donnerstag (3.04.2025) überhaupt richtig begonnen hatte. Orbans Kanzleiminister Gergely Gulyas ließ am Morgen über die staatliche Nachrichtenagentur MTI mitteilen, dass Ungarn aus dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) austrete. Die Regierung habe einen entsprechenden Schritt initiiert, der Austritt werde unter Einhaltung aller Fristen erfolgen. Bereits kurz darauf veröffentlichte das amtliche Gesetzesblatt Ungarischer Anzeiger den Entschluss der Regierung.
IStGH-Austritt schon im Februar erwägt
Gulyas fügte vorsorglich hinzu, dass Ungarn in einer besonderen juristischen Lage sei. Es sei dem IStGH zwar beigetreten. Da das ungarische Parlament das IStGH-Statut, das so genannte Statut von Rom, nie veröffentlicht habe, sei Ungarn auch nicht verpflichtet, Haftbefehle zu vollstrecken. Um die Widersprüchlichkeit der rechtlichen Situation aufzulösen, trete Ungarn nun aus. Tatsächlich hat das ungarische Parlament das Statut zwar 2002 ratifiziert, veröffentlicht wurde es aber im Amtsblatt nicht.
Obwohl der Schritt international für große Aufregung sorgte, kam er keineswegs überraschend. Als der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den israelischen Premier am 21. November 2024 erlassen wurde, vergingen nur wenige Stunden, bis Viktor Orban sich voll und ganz auf die Seite Netanjahus stellte. Der Haftbefehl sei "dreist, zynisch und völlig inakzeptabel", schrieb Orban auf X und lud seinen Freund nach Ungarn ein, "wo wir seine Freiheit und Sicherheit garantieren werden".
Bald darauf, im Februar 2025, erklärte Ungarns Außenminister Peter Szijjarto, dass sein Land erwäge, sich aus dem IStGH zurückzuziehen. Solche Verlautbarungen sind in Orbans Ungarn üblicherweise ein Signal, dass eine entsprechende Entscheidung bevorsteht.
Austritt aus dem IStGH erfolgt erst in einem Jahr
Unabhängige ungarische Medien und Beobachter kommentierten den Schritt halb schockiert, halb sarkastisch. Das Wochenmagazin HVG (Heti Vilaggazdasag) titelt beispielsweise: "Wozu bei uns ein internationales Strafgericht? Niemand darf uns vorschreiben, wen wir verfolgen und wen nicht!". Das Portal 444.hu schreibt: "Man hätte Netanjahu am Flughafen festnehmen müssen, aber wir treten lieber aus dem IStGH aus."
Tamas Hoffmann, Experte für internationales Recht an der Budapester Corvinus-Universität, sagte der Tageszeitung Blikk, mit dem IStGH-Austritt "signalisiert die ungarische Regierung, dass ihr das Vorgehen gegen internationale Straftaten und der Schutz der Menschenrechte nicht wichtig" seien.
Rechtlich gesehen wäre Ungarn tatsächlich verpflichtet gewesen, Netanjahu festzunehmen - trotz des geplanten IStGH-Austritts. Denn der wird erst nach einer einjährigen Frist wirksam, beginnend mit dem Datum der schriftlichen Austrittserklärung, die an den Generalsekretär der Vereinten Nationen gerichtet sein muss.
Austritt aus IStGH mehr als Gastgeschenk an Netanjahu
Dennoch feierten Viktor Orban und Benjamin Netanjahu den ungarischen IStGH-Austritt auf ihrer gemeinsamen Pressekonferenz am Donnerstag enthusiastisch. Orban nannte den IStGH ein "politisches Gericht". Netanjahu klatschte zu Orbans Worten und sagte seinerseits anschließend, der IStGH sei "korrupt" und bedrohe die Demokratie. Fragen waren auf der Pressekonferenz nicht zugelassen.
Dass Ungarn ausgerechnet am Tag des Netanjahu-Besuchs den IStGH-Austritt verkündete, ist allerdings weitaus mehr als nur ein Gastgeschenk Orbans an seinen Freund Netanjahu.
Ungarns Premier hat in diesem Jahr eine neue politische Großoffensive verkündet: Es geht um den "Kampf gegen das Brüsseler Imperium", um eine Umgestaltung der EU in einen Bund souveräner Staaten, zusammengehalten nur von wirtschaftlichen Interessen, und nicht zuletzt auch um einen Kampf gegen alle Kritiker Orbans. Ungarns Premier nannte sie in einer Rede zum Nationalfeiertag am 15. März "Wanzen, die überwintert haben" und die nun "liquidiert" werden würden.
Mit dem Amtsantritt Donald Trumps wähnt Orban die gegenwärtige Zeit besonders günstig für eine derartige politische Offensive. Er zählt dabei neben dem US-Präsidenten auch auf seine Verbündeten aus dem Parteienbündnis Patrioten für Europa, inzwischen die drittstärkste Fraktion im Europaparlament.
Insofern kann der IStGH-Austritt auch als eine Art Test interpretiert werden, ob und wie sich eine transnationale Institution angreifen und möglicherweise zerstören lässt. Dabei hat der Austritt aus dem Internationalen Strafgerichtshof durchaus auch eine Verbindung mit Ungarns Mitgliedschaft in der EU. Die Zugehörigkeit zum IStGH ist mehr oder weniger direkt mit der EU-Mitgliedschaft verknüpft, da die EU den IStGH als Teil ihres Rechts- und Wertesystems verankert hat. Ungarn ist das einzige EU-Land, dass aus dem IStGH austritt. Deshalb geht es letztlich auch um die Frage, ob Orban einen Austritt Ungarns aus der EU anstrebt.
Orban will eine andere EU
Bislang setzt Orban darauf, dass Ungarn weiterhin EU-Mitglied bleibt - in einer nach seinen Vorstellungen umgestalteten Union. Ein EU-Austritt wäre in Ungarn derzeit politisch nicht durchsetzbar und würde wohl Orbans politisches Ende bedeuten. Dennoch hetzt Ungarns Premier weiter gegen die Europäische Union - angefangen mit dem rechtsextremen Märchen des "Bevölkerungaustausches", demzufolge Europa durch Migration angeblich seine christlichen Wurzeln verlieren könnte. Bis hin zum "Gayropa"-Narrativ - Ungarns Regierungspartei Fidesz geht selbst gegen die LGBTQ-Bewegung in Ungarn vor.
Im Inland wiederum hat Orban eine umfassende Kampagne gegen seine Kritiker – die er abfällig "Wanzen" nennt - gestartet. Er spricht selbst von einem "Großreinemachen an Ostern". Ziel scheint es zu sein, seine Macht so weit zu festigen, dass politische Alternativen kaum noch möglich sind. Gleichzeitig wächst in Ungarn der Unmut über Korruption und autoritäre Tendenzen im Regierungssystem. Sichtbar wird das unter anderem daran, dass die im vergangenen Jahr gegründete Oppositionspartei Tisza (Respekt und Freiheit) in Umfragen deutlich vor Orbans Partei Fidesz liegt. Ihr Vorsitzender, Peter Magyar, gilt derzeit als populärster Politiker des Landes.
Der Publizist Imre Para-Kovács äußert sich jedoch skeptisch gegenüber einem politischen Wandel: "Ungarn ist immun gegen Veränderungen", schreibt er. Die Hoffnung mancher, das Land werde sich grundlegend verändern, sei aus seiner Sicht eine Illusion "sympathischer Träumer".