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Politik

Warum werden Kriegsgegner in Russland angezeigt?

Irina Chevtayeva
2. Juli 2022

Seit Putins Angriff auf die Ukraine gibt es aus Russland Berichte über Denunziationen von Kriegsgegnern. Die DW hat mit einer Anthropologin, einer Psychologin und einem Historiker über die Gründe dafür gesprochen.

Russland - Anti-Kriegs-Demo
Festnahme einer Kriegsgegnerin in Moskau im Februar 2022Bild: picture alliance/dpa/AP

Ein Vater zeigt seine Tochter an, weil sie gegen den Krieg in der Ukraine ist. Ein Mann meldet den Streit mit einem Kollegen über den Krieg bei der Polizei, und ein Freund beschwert sich über einen Post im russischen sozialen Netzwerk Vkontakte, in dem er eine Verhöhnung des Buchstabens Z sieht, das Symbol des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. In allen Fällen gab es polizeiliche Befragungen, aber keine Verfahren.

Es gibt jedoch auch zunehmend Fälle in Russland, wo Denunziationen schwere Folgen haben. Bei einem der bekanntesten beschwerte sich eine ältere Frau über Anti-Kriegs-Parolen auf Preisschildern in einem Supermarkt in St. Petersburg. Die Aktionskünstlerin Sascha Skotschilenko kam daraufhin in Untersuchungshaft, ihr drohen bis zu zehn Jahren Gefängnis.

Doch warum beschweren sich eigentlich Russen über ihre Mitbürger? Die Anthropologin und Autorin des Telegram-Kanals "(Nicht)Unterhaltende Anthropologie", Aleksandra Archipowa, unterscheidet zwei Formen von Denunziationen: "Einmal, wenn eine Person nicht öffentlich etwas den Behörden meldet, zum Beispiel: 'Pjotr ​​hört nachts ukrainisches Radio.' Die zweite Form ist, wenn Menschen öffentlich ein Signal setzen - zum Beispiel in sozialen Netzwerken."

"Ein Weg, um Aggressionen loszuwerden"

Die Psychologin Maria Potudina betrachtet Denunziationen als ein Ventil: "In Russland kann man schon seit langem seine Unzufriedenheit nicht mehr direkt zum Ausdruck bringen. Denunziationen sind ein relativ sicheres Mittel, um Aggressionen loszuwerden, auch wenn sie sich nicht gezielt gegen eine Person richten", erklärt sie im DW-Gespräch. "Man kann sich so von anderen abgrenzen, das eigene Umfeld vor alternativen Ansichten schützen, für Ordnung sorgen, Kontrolle ausüben und die 'Bösen' bestrafen, die der Staat für 'Verräter' hält."

Die Psychologin Maria Potudina macht auf ein geringes Selbstwertgefühl bei Menschen aufmerksamBild: privat

Ihrer Meinung nach geht es bei Denunziationen vor allem um Macht und darum, über das Schicksal anderer zu entscheiden. Menschen würden so auch versuchen, ein geringes Selbstwertgefühl zu kompensieren und sich an einen "Star dranzuhängen", der über größere Autorität verfügt.

Als Beispiel nennt Potudina den Blogger Gaspar Avakyan, der den in Russland beliebten Schauspieler und Komiker Maxim Galkin angezeigt hat, weil dieser sich gegen den Krieg ausgesprochen hat. Die Anzeige wird derzeit von den russischen Ermittlungsbehörden geprüft. Galkin, der den russischen Angriff auf die Ukraine stark verurteilt, ist nach dem Kriegsanfang nach Israel geflohen.    

"Denunziert wird auch, um einen materiellen Vorteil zu erlangen, aus kleinlicher Rache und aus einem Selbsterhaltungstrieb heraus. In der Sowjetunion gab es ein Gesetz, was Nichtanzeige unter Strafe stellte. Der dritte und schwierigste Grund ist, wenn dies jemand aus ideologischen Gründen tut", sagt die Anthropologin Aleksandra Archipowa.

Denunziationen ideologischen Inhalts sind ihr zufolge in Russland inzwischen weit verbreitet. "Wir sprechen hier von der Anzeige eines politischen Vergehens, über das in der Gesellschaft kein Konsens herrscht, für das man aber hart bestraft werden kann", so die Anthropologin.

Die Anthropologin Aleksandra Archipowa sieht immer mehr Denunziationen aus ideologischen GründenBild: privat

Seit Anfang März wurden in Russland mehr als 2000 Verfahren wegen "Diskreditierung" der russischen Armee eröffnet. Nach Angaben von Aktivisten des unabhängigen russischen Projekts zur Bekämpfung der politischen Verfolgung "OVD-Info", wurden im Durchschnitt Geldstrafen in Höhe von 35.000 Rubel (umgerechnet 620 Euro) verhängt.

Laut Pawel Tschikow, Leiter des Menschenrechtsprojekts "Agora", behandeln russische Gerichte täglich rund 40 solcher Fälle. Es gebe auch Dutzende Verfahren wegen "Fakes" über den Krieg. Urteile gab es hier noch keine, aber die Höchststrafe liegt bei bis zu 15 Jahren Gefängnis. Die Verfahren in all diesen Fällen wurden meist aufgrund von Denunziationen eingeleitet.

"Sie werden fast schon dazu verlockt"

Der Historiker Sergej Bondarenko von der Menschenrechtsorganisation "Memorial" weist darauf hin, dass mit Anzeigen mittlerweile viel offener umgegangen würde als in der Sowjetzeit, wo dies viel mehr ein verdecktes Instrument gewesen sei. Heute sei die Lage komplexer, aber nicht weniger schrecklich, weil Menschen wirklich eingesperrt würden.

Denunzieren würden oft Menschen, die vom Staat eine Reaktion auf ihr Vorgehen erwarten. Meist würden sie damit irgendetwas wettmachen wollen, mit irgendjemand eine Rechnung begleichen oder dies zum sozialen Aufstieg nutzen. Bondarenko betont: "Der Staat bringt die Menschen mit Drohungen oder Versprechungen dazu, es für nötig oder möglich zu halten, zu denunzieren, sie werden fast schon dazu verlockt."

Der Historiker Sergej Bondarenko vergleicht heutige Denunziationen mit denen in der SowjetzeitBild: privat

Diese Meinung teilen Maria Potudina und Aleksandra Archipowa. "Reden des Präsidenten über nationale Verräter ermutigen zu allen möglichen Denunziationen", sagt Potudina. Für Archipowa sind sie "ein Mittel im kalten Bürgerkrieg, der in Russland tobt".

"Der Präsident sagt, wir hätten innere Feinde, nach denen wir suchen müssten. Die Leute suchen sie, finden sie und beruhigen sich so selbst. Sie beweisen sich so ihre richtige politische Haltung und erhalten so Genugtuung", betont sie.

Ihr zufolge kann man nicht sagen, dass Menschen eines bestimmten Alters oder Geschlechts denunzieren. "Man denkt, dies würden nur ältere Menschen tun, aber das machen mehr oder weniger alle. In der Region Kaliningrad wurde ein Bot für Denunziationen auf Telegram getestet, worauf es in dieser ruhigen Region plötzlich eine Welle von Anzeigen gegen 'Diskreditierungen' der Armee gab."

Die Anthropologin sagt, immer mehr mündliche Äußerungen von der Straße, vom Schulhof oder aus Liedern würden denunziert. In diesen Fällen sei die Denunziation das einzige, worauf sich die Ermittlungen stützen würden.

"Es gibt nur die Datscha, keinen Krieg"

"Für viele Russen gibt es keinen Krieg. Es gibt nur die Datscha, den Garten, Erdbeeren zum Pflücken, Kinder und Enkelkinder, aber keinen Krieg. Für sie ist Krieg, wenn die eigenen Kinder hungern, der Mann an die Front geht und das Haus bombardiert wird. Das ist eine sehr bequeme Sichtweise", sagt Archipowa.

Viel einfacher sei es zu glauben, es gebe gar keinen Krieg. "Einzugestehen, dass man Bürger eines Staates ist, in dessen Namen ein wahnsinniger, schizophrener Krieg geführt wird, ist sehr schwierig. Denn dies zerstört alle Grundlagen der Loyalität gegenüber der Staatsmacht", so Archipowa.

Laut Historiker Sergej Bondarenko sind sich "sehr viele Menschen nicht bewusst, was für ein Horror, welche Verbrechen passieren. Meist halten sie daran fest, das sei eine Inszenierung." Verantwortlich dafür sei das Fernsehen. Es habe bei den Russen die Wahrnehmung zwischen Realität und Irrealität verwischt.

Den großen Einfluss der Propaganda bestätigt auch Maria Potudina. Zugleich spricht sie von einer Abwehrhaltung der Russen: "Wenn man sieht, dass man Schaden angerichtet hat, dann muss man etwas dagegen tun. Aber was kann der Durchschnittsrusse tun? Mit einer Heugabel auf den Kreml losgehen? Er wird nicht weit kommen. Es ist sehr schwer, ständig mit dem Wissen zu leben, dass das eigene Land unschuldige Menschen tötet."

Potudina ruft dazu auf, Schwarz-Weiß-Denken und Kategorien von "guten" und "bösen" Russen zu vermeiden. Die Menschen in Russland würden sich gegen die offenkundige Wahrheit sträuben, so die Psychologin, und an einem falschen Bild festhalten, nur um nicht durchzudrehen.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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