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GesellschaftDeutschland

Was bedeutet der 7. Oktober 2023 für Juden in Deutschland?

7. Oktober 2025

Das Trauma des 7. Oktober 2023 überschattet das jüdische Leben in Deutschland. Eine Studie untersucht, wie sich Ausgrenzung und Judenhass auf Menschen auswirken.

Das Bild zeigt einen Mann mit einer Kippa auf dem Kopf, die einen Davidstern zeigt, von hinten fotografiert. Man erkennt an den zahlreichen umstehenden Personen, die nicht deutlicher zu erkennen sind, dass es eine Szene aus einer Demonstration bzw. Kundgebung ist
Solidaritäts-Demo für Israel: Ein Jude mit Kippa im Oktober 2023 in BerlinBild: Stefan Boness/IPON/picture alliance

"Man kann bei uns nicht durch den Kiez gehen, ohne an antisemitischen Schmierereien vorbeizukommen." Es ist die (anonymisierte) Schilderung einer Jüdin in Deutschland. Für diese Frau ist Judenhass seit dem 7. Oktober 2023 zum Alltag geworden: "Ich merke, dass ich mich wirklich frage. Wie geht es damit weiter?"

Die kurze Schilderung ist eine von vielen Stimmen, die in einer neuen "Studie zu den Auswirkungen des terroristischen Anschlags am 7. Oktober 2023 auf jüdische und israelische Communities in Deutschland" zu Wort kommen. Darin berichten Betroffene über Alltagserfahrungen, aber auch über psychische Folgen: Depressionen, Schlafstörungen, Angstzustände und Panikattacken - jüdisches Leben in Deutschland im 2. Jahr nach dem massiven Terrorangriff auf Israel.

Die Vorstellung der Studie "Antisemitismus in Deutschland - Auswirkungen des 7. Oktober 2023" in Berlin: Ferda Ataman, Friederike Lorenz-Sinai, Marina Chernivsky und Josef Schuster (v.l.n.r.)Bild: dts-Agentur/picture alliance

Bei dem Massaker, das die islamistische Hamas und weitere extremistische Gruppen in Israel verübten, wurden rund 1200 Menschen in Israel getötet und tausende verletzt. Rund 250 Menschen wurden als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Dem folgte der Gaza-Krieg, in dem mittlerweile zehntausende Palästinenser durch israelische Angriffe starben und viele weitere verletzt wurden.

Ausgrenzung und Ängste in Deutschland

In der Studie geht es um Ausgrenzung, Bedrohungen und Ängste im deutschen Alltag. Befragte schildern Erlebnisse aus dem öffentlichen Nahverkehr, dem Berufsalltag, der Schule und Universität bis hin zum Arztbesuch, wo der Arzt oder die Ärztin über den Gaza-Krieg sprechen wollten. Vielfach fühlten sich Jüdinnen und Juden allein gelassen.

Eine "kollektiv erlebte Empathieverweigerung" durchziehe zahlreiche Lebensbereiche. Empathie für das Leid von Juden fehle bei nichtjüdischen Angehörigen, in langjährigen Freundschaften oder bei Nachbarn und Nachbarinnen. Diese Erfahrung gebe es sogar bei "Dates und Liebesbeziehungen".

Antisemitismus in Berlin: Jüdisches Leben unter Druck

04:08

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Verschiedene Einrichtungen in Deutschland, sowohl auf Seiten der Sicherheitskräfte als auch in der Zivilgesellschaft, erfassen seit längerem die Zahlen antisemitischer Vorfälle seit dem 7. Oktober 2023.

Ein klares Ergebnis ist, dass sie seitdem um ein Mehrfaches angestiegen sind und auf hohem Niveau verbleiben. Dabei wird darauf hingewiesen, dass immer mehr jüdische Einrichtungen in Deutschland unter Polizeischutz stehen.

Vor der Synagoge in Magdeburg: Die meisten jüdischen Gotteshäuser in Deutschland werden von der Polizei geschütztBild: Christoph Strack/DW

Das Neue der nun vorgelegten Untersuchung ist die vertiefte Frage nach den Folgen. Vielfach sind es Rückzüge: Menschen verbergen ihre jüdische Identität oder schotten sich völlig ab.

Autorinnen der Studie sind die Berliner Psychologin Marina Chernivsky, Leiterin des Kompetenzzentrums für antisemitismuskritische Bildung und Forschung, und Friederike Lorenz-Sinai, Professorin für Sozialarbeitsforschung an der Fachhochschule Potsdam. Sie machten sich bald nach dem Terrorangriff der Hamas auf die Suche nach Gesprächspartnern - und rechneten nach eigenem Bekunden mit etwa 30 Stimmen. Sie suchten mit Aushängen in mehreren Sprachen (Deutsch, Englisch, Russisch, Hebräisch) in deutschen Städten sowie Posts in den sozialen Medien.

Doch weit mehr Personen als erwartet meldeten sich. Bislang kamen 111 Frauen und Männer in Interviews oder bei Gruppengesprächen zu Wort. Insgesamt, so die Autorinnen, zeige sich, dass der 7. Oktober von Studienteilnehmenden als eine "starke Überwältigungserfahrung" und historische Zäsur erlebt werde. Jüdinnen und Juden nähmen bei anderen eine "Relativierung, Legitimation und Verherrlichung der genozidalen Gewalt des 7. Oktober" wahr. Für sie selbst gelte, dass dieser Samstag im Oktober 2023 ihr Leben in eine Zeit vor und nach diesem Tag geteilt habe.

2022 vom Bundestag zur Beauftragten für Antidiskriminierung gewählt: Ferda AtamanBild: dts-Agentur/picture alliance

Die Studie zeige, "wie sehr Antisemitismus das Leben von Jüdinnen und Juden im Alltag prägt. Sie werden beleidigt, bedroht, diskriminiert und leben in ständiger Alarmbereitschaft", sagte Ferda Ataman, die unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Antidiskriminierung, bei der Vorstellung in Berlin. Die Antidiskriminierungsstelle hat die Erstellung der Studie gefördert.

Das Recht zur Antidiskriminierung nachschärfen

Ataman mahnte, Jüdinnen und Juden müssten spüren, "dass der Rechtsstaat für sie da ist". So brauche es konsequente Strafverfolgung und besseren Schutz vor Diskriminierung im Alltag. Konkret nannte sie "ein besseres Antidiskriminierungsrecht, das bei Antisemitismus wirkt". Das seit 2006 geltende Recht schütze beispielsweise israelische Staatsangehörige in Deutschland nur bedingt vor Diskriminierung.

Mehrere Befragte betonten laut Studie, dass sie mit Ausgrenzung oder "einseitiger Dämonisierung Israels" kurz nach dem 7. Oktober 2023 konfrontiert worden seien. Einzelne machten auch positive Erfahrungen: So erläutert eine jüdische Arbeitnehmerin, dass gleich am ersten Tag des Terrors zunächst ihre muslimischen Kollegen sie angeschrieben und sich solidarisch und unterstützend gezeigt hätten. Es ist eine der wenigen Passagen in der rund 110-seitigen Studie, bei der die Erfahrung von Solidarität aus der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft zur Sprache kommt.

Seit 2014 Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland: Josef SchusterBild: dts-Agentur/picture alliance

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, sprach von einem "bedrückenden Bild" der Studie, "das Jüdinnen und Juden aber keinesfalls erstaunt". Es gehe um "tagtägliche" Erfahrungen des Antisemitismus und eine "dramatische Zuspitzung".

"Die eigene Identität verstecken"

Jüdinnen und Juden seien in Deutschland zunehmend von einer gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen und müssten aus Selbstschutz "ihre eigene Identität immer öfter verstecken".

Die Wissenschaftlerinnen wollen die Arbeit an der Studie fortsetzen. Der für 2026 geplante Abschlussbericht soll  noch intensiver die Erfahrungen und Anliegen von Kindern und Jugendlichen thematisieren. Außerdem soll es um die Zukunftsperspektiven jüdischer und israelischer Communities in Deutschland gehen.

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