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Was bedeutet Freiheit für die FDP?

Ben Knight wd
15. Januar 2022

Die FDP behauptet gerne, sie sei die Partei, die die Freiheit des Einzelnen schützt. In der Regierungsverantwortung erweist sich die Partei nun als pragmatisch.

Dreikönigstreffen der FDP
Freiheit im Zentrum: FDP-Chef Christian Lindner beim Dreikönigstreffen seiner ParteiBild: Sebastian Gollnow/dpa/picture alliance

Irgendwann in den vergangenen Monaten hat die FDP offenbar angefangen, ein neues Lied zu singen. Die Partei, die sich immer als die große Beschützerin der Freiheit gesehen hat, scheint ihre Politik rund um die Prinzipien der individuellen Freiheit nach und nach neu zu gestalten.

Im April 2021 hatte die Partei in letzter Minute Verfassungsbeschwerde gegen die neuen Vorschläge der damaligen Regierung Merkel zur Coronavirus-Ausgangssperre eingereicht. Im darauffolgenden Wahlkampf gewann die Partei viele neue Wähler – unter anderem mit dem Versprechen, sich allzu strengen Corona-Maßnahmen zu widersetzen.

Doch kaum hatte die Partei im Herbst 2021 Koalitionsverhandlungen aufgenommen, schlug Parteichef Christian Lindner einen realistischeren Ton an: Für Deutschland, inzwischen tief in der vierten Pandemiewelle, schloss er eine generelle COVID-Impfpflicht nicht mehr aus – ein Tabu, das nicht lange zuvor von fast allen deutschen Parteien vertreten wurde.

Auf ein Wort... Freiheit

42:30

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Freiheit oder Krankheit?

Einige würden argumentieren, dass die Freiheit einer Person, Impfungen abzulehnen, die Freiheit anderer Personen beeinträchtigt, nicht krank zu werden. Anna Katharina Mangold, Professorin für Staatsrecht an der Universität Flensburg, kritisiert, was sie eine "ärmliche Version" der Freiheit nennt, für die die Partei im Frühjahr 2021 zu werben schien. "Die aktuelle FDP setzt auf einen sehr individualistischen Freiheitsbegriff", sagt Mangold der DW. Die Entscheidung, gegen die Bundesregierung auch vor Gericht zu gehen, habe beispielsweise gezeigt, dass sich die FDP in eine Ecke manövriert habe, aus der sie jetzt nicht leicht herauskommt. "Die merken jetzt, dass es einfacher ist, strikte Positionen in der Opposition zu formulieren, dass man aber Kompromisse eingehen muss, wenn man selbst regiert", so die Staatsrechtlerin.

Angesichts der im Vergleich westlicher Länder relativ geringen Impfquote in Deutschland drängt die Bundesregierung auf weitere Beschränkungen, um die neuen Coronavirus-Varianten zu bekämpfen. Aber auf dem jährlichen "Dreikönigstreffen" der FDP am 6. Januar – eine alte Tradition, die die Partei mit ihren Wurzeln im Liberalismus des 19. Jahrhunderts verbindet – war es Lindner wichtig zu betonen, dass die Partei ihre Prinzipien nicht aufgegeben habe. "Gesundheit zu erhalten, ist ein hoher Wert, aber der höchste Wert unserer Verfassung ist und bleibt die Freiheit", sagte Lindner. (Foto)

Auch Marco Buschmann, der im vergangenen Frühjahr als FDP-Fraktionsvorsitzender den Verfassungskampf der Partei gegen neue Coronavirus-Beschränkungen anführte und jetzt Bundesjustizminister ist, beharrt trotz der Pandemie weiterhin auf liberalen Grundprinzipien. In einem Interview mit der "Zeit" hat er es diese Woche bissig formuliert: "Auch der Mangel an Freiheit macht krank."

Freiheit im Namen

Die FDP hat sich immer den Freiheitsbegriff in der deutschen Politik zu eigen gemacht. "Die Freien Demokraten sind die Partei der Freiheit und der Selbstbestimmung", lautet die erste Zeile der "Allgemeinen Grundsätze", die auf der Webseite der Partei veröffentlicht sind. Und die Parteistiftung, benannt nach dem liberalen Politiker Friedrich Naumann, trägt den Begriff der Freiheit direkt in ihrer Internet-Domain.

Aber was dieser politische Begriff bedeutet, kann sich ändern, und Mangold argumentiert, dass die FDP früher eine, wie sie es nennt, "reichere" Vorstellung von Freiheit und der Rolle des Staates hatte, diese zu schützen.

In ihrer sieben Jahrzehnte langen Geschichte habe sich die FDP im politischen Spektrum mehrfach gewandelt. In den ersten Jahrzehnten, sagt Mangold, habe die FDP "die Einbettung des Einzelnen in die Gesellschaft" als Teil eines umfangreichen Freiheitsverständnisses angesehen. Jetzt beschreie sie Freiheit als etwas, das der Einzelne ohne Grenzen ausüben kann. 

Hat sich Gedanken über den Freiheitsbegriff gemacht: Justizminister Marco BuschmannBild: Thomas Trutschel/photothek/imago images

Die FDP-Führung erkennt die komplexe Beziehung zwischen Individuum und der Gesellschaft an. Minister Buschmann griff neulich nach literarischer Inspiration, um das zu illustrieren. Anders als Robinson Crusoe, schrieb Buschmann diese Woche in einem Kommentar für die "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", seien wir nicht allein auf einer einsamen Insel gestrandet – und das sei der entscheidende Punkt. Robinson Crusoes Freiheitsbegriff sei politisch steril, führt Buschmann aus. "Freiheit als politisches Prinzip meint die Freiheit des einzelnen Menschen im Zusammenleben mit vielen." Denn "an einem Ort mit nur einer Person kann es keine politische Freiheit geben." Der Minister argumentierte, "die Freiheit des einzelnen Menschen mäßigt die Mehrheit. Sie darf in seine Freiheit nicht bloß aufgrund einer selbstgewissen Ahnung eingreifen."

Die Balance sei schwer zu finden, sagt Mangold. Manchmal sei es der beste Weg, die vorgeschlagenen Beschränkungen praktisch zu sehen und dem Rechtssystem zu vertrauen. "Wir müssen uns die konkreten Freiheitsrechte in der Verfassung ansehen und dann sollten wir in einem konkreten Abwägungsverfahren zusehen, wie wir zu einer einzelnen Regelung kommen."

Freiheit, Staat und Philosophie

Sollten Freiheit und Gesellschaft immer als Gegensätze definiert werden, die unausweichlich in Konflikt geraten? Oder bedeutet ein "umfassendes" Freiheitsverständnis, dass Freiheit selbst neu definiert werden kann?

In der September-Ausgabe des Magazins "Philosophie" ging Christoph Möllers, Professor für Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, sogar so weit zu sagen, es gebe so etwas wie "kollektive Freiheit". Das bedeute, dass die Gesellschaft nicht unbedingt nur den Einzelnen einschränkt, "sondern auch ermächtigen, Dinge zu tun, die wir alleine nicht tun könnten."

Der Begriff des Individuums ergebe nur Sinn, wenn er sich auf eine Gemeinschaft bezieht, sagt Möllers. "Man muss Abstand davon nehmen, das Individuum zu etwas Natürlichem und die Gemeinschaft zu etwas Abgeleitetem zu erklären."

Das geht Karl-Heinz Paqué, dem Vorsitzenden der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung etwas zu weit. "Auf philosophischer Ebene würde ich sagen, kann ich damit nichts anfangen", so Paqué gegenüber der DW. "Das führt zu einer Aushöhlung des Freiheitsbegriffs. Freiheit ist im Kern eine Sache des Einzelnen. Ich würde nie sagen, dass wir, um Freiheit vollständig zu verwirklichen, eine Art kollektive Begrenzung brauchen. Ich denke, das ist philosophisch extrem gefährlich."

Demonstration von Querdenkern und anderen Gegnern der Corona-Maßnahmen in Stuttgart im April 2021Bild: Arnulf Hettrich/imago images

Auf der anderen Seite weiß Paqué, dass die individuelle Freiheit vom Staat kontrolliert werden muss – so gebe es schließlich auch Sicherheitsgurte und Ampeln. So spiele der Staat auch eine bedeutende Rolle beim Schutz der individuellen Freiheit. Daher stehe die FDP für ihn auch für einen "befähigenden Staat", wie er es nennt.

"Wenn es unser Ziel ist, eine Gesellschaft zu erschaffen, in der möglichst viele Menschen gleiche Chancen und eine nicht zu ungleiche Einkommensverteilung haben, dann gibt es zwei Wege dafür." Die linke Lösung, so Paqué, bestehe darin, den Menschen durch einen "korrigierenden Staat" Gleichberechtigung aufzuzwingen.

Parallelen zwischen den USA und Großbritannien?

"Der "befähigende Staat" allerdings unternimmt alles, um alle Chancen anzugleichen", sagt Paqué. Daher sei Bildung für die FDP ein so wichtiger Bereich in der Politik. Allerdings gibt er zu, dass Deutschland ein Problem hat, allen Bürgern die gleichen Bildungschancen anzubieten. Die Deutschen hätten in den 1960er und 1970er Jahren wahrscheinlich mehr Chancengleichheit genossen.

Aber die Idee des "ermöglichenden Staates" ist eine von vielen Themen, die die FDP von anderen politischen Parteien unterscheidet, die sich dem Freiheitsprinzip verschrieben haben, wie etwa die Republikaner in den USA. "In den USA spielt der Staat eine viel geringere Rolle, wenn es um seine Eigenschaft als 'Ermöglicher' geht." sagt Paqué, der auch stellvertretender Präsident der Liberalen Internationalen ist. "Die Leute verlassen sich viel weniger auf den Staat. Es ist eine Gesellschaft, die ein viel rustikaleres Grundverständnis von Freiheit hat." Es steht im deutlichen Kontrast zu den Liberaldemokraten in Großbritannien, die Paqué etwas links von der FDP einordnet. Das liberale Freiheitsideal kann also an unterschiedlichsten Stellen des politischen Spektrums von links bis rechts eingeordnet werden.