EU verwaltet den Gas-Mangel
15. Juli 2022Welche Regeln gelten in der EU, wenn Erdgas knapp wird?
Wenn Russland nach dem Ende der Wartung der Pipeline Nord Stream 1 seine Gaslieferungen nicht wieder aufnehmen sollte, greift eine EU-Richtlinie zur Sicherung der Gasversorgung aus dem Jahr 2017 mit der passenden Abkürzung "SOS-Verordnung" (Security Of Supply). Alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union müssten über Notfallpläne und ein drei Stufen umfassendes Alarmsystem verfügen. Diese Hausaufgaben haben aber nicht alle Regierungen gemacht.
Die Mitgliedsstaaten der EU sind in regionale Gruppen eingeteilt, die gemeinsame Risiken teilen. Eine Gruppe sind zum Beispiel die baltischen Staaten und Finnland, die bislang völlig von russischem Gas abhingen und sich teilweise bereits Alternativen gesucht haben.
Eine andere Gruppe sind Portugal, Spanien und Frankreich, die nur wenig russisches Gas beziehen und von einem Lieferstopp nicht direkt betroffen wären. Im Krisenfall wären die Mitgliedsstaaten verpflichtet, sich "solidarisch" zu helfen, also gegenseitig Gas zu liefern und Informationen auszutauschen.
Die EU-Staaten sollen außerdem ihre Gasspeicher bis zum Beginn der nächsten Heizperiode vor dem europäischen Winter zu mindestens 80 Prozent befüllen. Das Problem, das viele Experten und Politiker sehen, ist, dass der Ausfall des größten Gaslieferanten Russland eine gegenseitige Belieferung oder das Befüllen von Speichern extrem schwierig macht.
Welche Rolle spielt Deutschland im EU-Gasmarkt?
Deutschland ist der größte Abnehmer russischen Gases in Europa und ein wichtiges Transitland für Pipeline-Gas, das über Nord Stream und andere Leitungen transportiert wird. Was aber würde passieren, wenn Deutschland kein russisches mehr Gas bekäme? Müsste es dann Gas, das es zum Beispiel aus Norwegen oder den Niederlanden bezieht, an andere EU-Staaten weiterleiten, obwohl es selbst unter Mangel leidet?
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck handelt derzeit mit Nachbarländern Solidaritätsabkommen für die Belieferung in solchen Notlagen aus. "Wir müssen die Fälle einmal durchdeklinieren und festlegen, was wann genau passiert. Also wann eine Gasmangellage ausgerufen wird, in welchen Ländern, in welchen Schritten, sodass wir genau wissen, was passiert", sagte Habeck bei einem Besuch bei seinem tschechischen Kollegen Josef Sikela.
Habeck handelte mit der tschechischen Regierung einen Vertrag aus. Der Mangel, so Habeck, müsse gemeinsam verwaltet werden, damit einzelne Staaten nicht über Gebühr getroffen würden. Tschechien zum Beispiel bezieht sein Erdgas fast ausschließlich über Pipelines aus Deutschland. Auch Polen wird über Deutschland mit Gas aus Nord Stream 1 beliefert. Die Schweiz ist komplett auf Gaslieferungen aus Deutschland angewiesen.
Wird "Solidarität" bei der Belieferung mit Gas in der EU funktionieren?
Die SOS-Verordnung der EU sieht vor, dass Gas nur solchen Staaten angeboten werden muss, die selbst eine Notlage ausgerufen haben und alles unternommen haben, um den Verbrauch zu reduzieren. Der An- und Verkauf von Gas soll weiter über die teilweise privaten, teilweise staatlichen Gasversorger geregelt werden, was in Krisenzeiten ein komplexes Verfahren ist.
Die Deckelung von Preisen, wie von Italien vorgeschlagen, lehnt die EU bislang als kontraproduktiv ab. Bulgarien, das von Gazprom boykottiert wird, leitet dennoch russisches Gas, das über die Turk-Stream-Leitung läuft, durch das eigene Land bis nach Serbien und Ungarn. Würde das im Krisenfall einfach so weitergehen?
Ungarn hat einen Notstand erklärt und alle Exporte von Energie verboten, sich also aus der Solidargemeinschaft komplett verabschiedet. Georg Zachmann, Energie-Experte bei der Denkfabrik Bruegel in Brüssel, hält das nicht für einen klugen Schritt Ungarns. "Für ein Land ohne Hafen mit einem Verbrauch von 10 Milliarden Kubikmeter und einem Speicher von nur 3 Milliarden Kubikmeter bin ich nicht sicher, ob das eine smarte Entscheidung ist", twittert Zachmann.
Die EU-Kommission hatte die Mitgliedsstaaten schon lange angehalten, gegenseitig Abkommen für solidarische Lieferungen zu schließen, denn es gibt keine zentrale Steuerung über Quoten oder Ähnliches durch Brüssel. Bislang hat Deutschland drei Abkommen geschlossen: mit Dänemark, Österreich und Tschechien. Weitere Vereinbarungen gibt es zwischen Litauen und Lettland, Estland und Lettland, Finnland und Estland, Italien und Slowenien.
Komplex sind auch die Besitzverhältnisse bei den Gasversorgern. Beteiligungen bestehen oft grenzüberschreitend im EU-Binnenmarkt. So ist zum Beispiel der finnische Staat teilweise Eigentümer des größten Gaslieferanten in Deutschland. Die Frage ist, wer rettet wen, wenn private Unternehmen in Schieflagen geraten?
Das Hauptproblem werde weder durch Koordination der Mitgliedsstaaten noch durch die Pläne der EU-Kommission gelöst, meint der christdemokratische Europaabgeordnete Markus Ferber. Es sei einfach zu wenig Gas verfügbar. "So kommen wir nicht über den Winter", sagte Ferber in Brüssel.
Was unternehmen die EU-Staaten, um die Gas-Krise abzuwenden?
Die Suche nach Alternativen ist unter großem Druck im Gange. Die baltischen Staaten und Deutschland setzen auf mehr Flüssiggas aus dem Nahen Osten oder den USA, das teilweise über noch zu errichtende schwimmende Terminals angelandet werden soll. Italien kauft Kontingente in Algerien und Aserbaidschan. Zusätzliches Gas aus Norwegen, dem Vereinigten Königreich, Algerien und den Niederlanden wird zu weiter steigenden Preisen aufgekauft.
Das alles wird nach Einschätzung der EU-Kommission aber nicht ausreichen, um ausbleibende russische Lieferungen kurzfristig zu ersetzen. Deshalb mahnt Brüssel das Sparen und die Einschränkung von Gasverbrauch für bestimmte öffentliche Einrichtungen an. Deutschlands Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck spricht sich neuerdings dafür aus, in extremen Notlagen privaten Haushalten nicht unbedingt Vorrang vor Industriebetrieben bei der Versorgung zu geben.
Werden die EU-Regeln verändert?
Die EU-Kommission wird kommende Woche einen Notfallplan vorlegen. Darin ist vorgesehen, der Stromerzeugung aus Gaskraftwerken im Zweifelsfall Vorrang vor dem Heizen und Kochen privater Verbraucher einzuräumen. Die Industrie soll zunächst noch nachrangige Priorität haben.
Die Regeln der EU, so heißt es aus dem Bundeswirtschaftsministerium in Berlin, müssten geändert werden, weil sie für eine kurzzeitige Lieferunterbrechung in einzelnen Staaten, nicht aber für einen flächendeckenden Mangel geschrieben worden seien. Die EU-Kommission will außerdem festschreiben, dass öffentliche Gebäude und Arbeitsstätten nur auf 19 Grad Celsius aufgeheizt werden. Eine Plattform zum gemeinsamen Gas-Einkauf mehrerer EU-Staaten ist beschlossen, arbeitet aber noch nicht.
Die EU-Kommission geht in ihrem Notfallplan davon aus, dass durch Energieeinsparung von privaten Haushalten und Unternehmen etwa ein Drittel der von Russland verursachten Gas-Lücke kompensiert werden kann. Was ist mit den andern zwei Dritteln? Die Energieminister der EU sollen darüber am 26. Juli in einer Sondersitzung beraten.