Was die Antibabypille mit Auschwitz zu tun hat
17. August 2025
Der Schmerz, als ein Häftling ihr in Auschwitz die Lagernummer eintätowierte, sei heftig gewesen, erinnert sich Renée Düring. "Sei froh, dass du eine Nummer bekommst, sonst würdest du direkt im Ofen landen", sagte er.
Die Nazis hätten sie vor die Wahl gestellt: "Entweder du gehst ins Vernichtungslager Birkenau", sagte man ihr, "oder du stehst uns für medizinische Forschungen zur Verfügung. Das wird dich nicht umbringen."
Renée Düring (1921-2018) entschied sich für letzteres - und landete als menschliches Versuchskaninchen in den Händen des Gynäkologen Carl Clauberg. Ihre Geschichtehat sie 1992 dem United States Holocaust Memorial Museumerzählt. Die Kölner Jüdin war eine von hundertenFrauen, an denen der Mediziner Sterilisationsexperimente durchführte.
Carl Clauberg: Autorität in der Hormonforschung
Clauberg studiert an der Medizinischen Fakultät in Kiel und erwirbt 1925 seinen Doktortitel. Er spezialisiert sich im Bereich Gynäkologie und entwickelt gemeinsam mit Chemikern des Pharmaunternehmens Schering-Kahlbaum Hormonpräparate. Sein Verfahren, unfruchtbaren Frauen zu einer Schwangerschaft zu verhelfen, macht ihn zu einer Autorität in Sachen Hormonforschung.
Am 1. Mai 1933 tritt Carl Clauberg in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) und die SA (Sturmabteilung, eine paramilitärische Kampforganisation der NSDAP, Anm. d. Red.) ein. Wie viele Ärzte im Nazi-Deutschland erhoffte er sich von den Machthabern Hilfe, um seine Forschung voranzutreiben. Unter den Nazis gehört es zur Pflichterfüllung jeder deutschen Frau, möglichst viele Kinder in die Welt zu setzen - am besten blond und blauäugig.
Clauberg forscht aber auch an einer Methode, wie man Frauen sterilisieren kann. Dies war ganz im Sinne der menschenverachtenden NS-Rassenpolitik. Denn die hatte zum Ziel, Juden und Sinti und Roma den Nachwuchs zu verwehren und sie auszulöschen.
Die Hölle von Block 10
1942 schickt Clauberg ein Gesuch an Heinrich Himmler, dem nach Adolf Hitler mächtigsten Mann in Deutschland - und zuständig für die Durchführung des Holocausts. Er wolle, so der Gynäkologe, seine "neue Methode zur operationslosen Unfruchtbarmachung minderwertiger Frauen" durchführen und brauche dafür Räumlichkeiten.
Im Frühjahr 1943 ist es soweit. Er bekommt zwar kein eigenes Institut, aber einen Trakt in Auschwitz. Im Block 10 schafft Clauberg sich sein eigenes Versuchslabor. Die ersten Jüdinnen aus dem benachbarten Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau werden hierher umquartiert.
Nach Aussage Clauberg sind die Häftlingsfrauen für ihn gesichtslos, ihn interessieren nur ihre Unterbäuche. "Morgens, nachdem wir gezählt wurden, wurden unsere Nummern aufgerufen, um nach unten zu kommen. Wir warteten in einer Reihe draußen und dann wurden wir nacheinander in einen Raum gebracht und auf einen schwarzen Glastisch gelegt, der ein Röntgentisch war. Während die Flüssigkeit in unseren Körper injiziert wurde, lief die Röntgenmaschine, sodass der Arzt sehen konnte, was er mit der Flüssigkeit machte, aber diese Injektion brannte so schrecklich", erinnerte sich Renée Düring Jahre später an die Torturen, die sie erleiden musste.
Weder Renée noch die anderen Frauen wissen zu dem Zeitpunkt, was mit ihnen passiert. Clauberg praktiziert an ihnen, was er zuvor bereits an Tieren getestet hat. Seine Instrumente sind nicht steril, der Arzt verwendet sie mehrfach. Es gibt auch keine Betäubung – nur diese Spritze.
Wenn das Kontrastmittel ihm zeigt, dass die Eileiter durchlässig sind, kommen die Frauen ein, zwei Wochen später wieder auf den Tisch. Dann spritzt er eine giftige Substanz in den Unterleib, die die Wände der Eileiter verkleben und verätzen soll. Klappt das nicht, wiederholt er die Prozedur. "Ich musste drei Tage mit schrecklichen Schmerzen liegen", so Düring.
Eitrige Bauchfellentzündungen, Blutvergiftungen, wehenartige Schmerzen und schreckliches Brennen – das sind gängige Nebenwirkungen von Claubergs Versuchen. Die Frauen wollen ihre Schreie zurückhalten, denn es heißt, sonst kommen sie nach Birkenau in die Gaskammer.
Menschenverachtende Medizin
Wie ist es möglich, dass ein Arzt alle ethischen Bedenken über Bord wirft und Menschen wie Tiere behandelt? "Medizinische und menschliche Überlegungen spielen eine untergeordnete Rolle in dem Moment, wo jemand davon ausgeht und akzeptiert hat: Das sind keine Menschen mehr, das sind Untermenschen", so die Historikerin Prof. Dr. Andrea Löw vom Zentrum für Holocaust-Studien in München gegenüber der Neuen Osnabrücker Zeitung.
Bei Clauberg sei "grenzenloser Ehrgeiz" dazugekommen. "Er hat seine Chance gesehen, sich das System zunutze zu machen, um seine Karriere voranzutreiben und Ruhm und Ehre zu erreichen. Dem hat er alles untergeordnet."
Himmler will von Clauberg wissen, wie viel Zeit es bräuchte, um 1000 Frauen zu sterilisieren. Die Antwort des Mediziners: Ein entsprechend eingeübter Arzt allein mit 10 Assistenten sollte in der Lage sein, höchstwahrscheinlich ein paar 100, wenn nicht 1000 Juden an einem Tag zu sterilisieren.
Drohender Prozess in Deutschland
Dazu kommt es nicht mehr. Am 27. Januar 1945 befreit die Rote Armee Auschwitz. Clauberg hat sich da schon ins Frauen-KZ-Ravensbrück abgesetzt, wo er seine Versuche fortsetzt.
Als die Sowjets im April auch hier anrücken, flieht er. Zwei Monate später wird er entdeckt, verhaftet und in Moskau zu 25 Jahren Straflager verurteilt.
Doch schon 1955 wird er frühzeitig aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und fühlt sich von seiner "Vaterstadt geradezu fürstlich empfangen", so ist es in den Akten der Oberstaatsanwaltschaft Kiel dokumentiert. Clauberg wird wieder an der Kieler Universitätsklinik tätig. Die Ärzteschaft ist längst noch nicht entnazifiziert, der Kollege, der in Auschwitz tätig war, höchstwillkommen.
Doch im November 1955 erstattet der Zentralrat der Juden Anzeige gegen Clauberg, es gibt über 100 Zeugen, die gegen ihn aussagen wollen. Er selbst spricht von Verleumdung und fühlt sich als Justizopfer.
Er behauptet, er habe die Frauen in Block vor dem Tod retten wollen, seine Einrichtung sei ein "Lebensrettungs-Institut" gewesen; so steht es in den Ermittlungsakten. Aber Carl Clauberg stirbt am 9. August 1957, bevor ihm der Prozess gemacht werden kann.
1960 kam die Pille
Laut Protokollen hat der Mediziner 500 bis 700 Frauen sterilisiert. Viele seiner Opfer lebten weiter - traumatisiert und unfruchtbar. Renée Düring allerdings durfte ein Wunder erleben: Sie wurde trotz Claubergs Eingriffen Mutter einer Tochter.
Am 18. August 1960 kam in den USA das erste Medikament zur hormonellen Empfängnisverhütung mit dem Namen "Enovid" auf den Markt. Claubergs Grundlagenforschung hat maßgeblich zur Entwicklung des Präparats beigetragen.
Die Firma Schering, die einst Claubergs Experimente finanzierte, ging im Pharmakonzern Bayer auf. Sie vertreibt die Antibabypille. "Diese revolutionäre Methode der Familienplanung wurde zu einem Schlüsselfaktor der Emanzipation und einem Wendepunkt für die Gesellschaft", verkündete der Konzern auf seiner Webseite.
Die Frauen in Block 10 hatten nicht die Wahl, sich für oder gegen ein Kind zu entscheiden.