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Was die neue Verfassung für Chile bedeutet

19. Mai 2021

Die Chilenen haben vor allem linke Vertreter in die verfassungsgebende Versammlung gewählt. Eine Neuauflage der konservativen Verfassung des Landes dürfte vom Tisch sein. Damit stehen auch Errungenschaften auf dem Spiel.

Menschen mit roten Fahnen feiern. Ein Schild fordert Enteignungen
Linke Gruppen feierten das Wahlergebnis in der Nacht auf Dienstag in Santiago de Chile Bild: Felipe Figueroa/ZUMAPRESS/picture alliance

Chile hat eine verfassungsgebende Versammlung gewählt, und die konservative Regierungskoalition hat mit ihrer Kandidatenliste Vamos por Chile weniger als ein Viertel der Sitze errungen. Das ist nicht nur eine Niederlage für Präsident Sebastián Piñera und sein Parteienbündnis Vamos Chile. Es könnte auch bedeuten, dass das Land vor einer Zeitenwende steht.

Die heutige Verfassung stammt aus dem Jahr 1980. Sie geht also auf die Militärdiktatur unter General Augusto Pinochet zurück. Doch nicht nur deshalb ist sie vor allem den politischen Kräften links der Mitte ein Dorn im Auge. Sie gilt auch als neoliberales Bollwerk gegen die Einflüsse sozialistischer Ideen: "Die Autoren der Verfassung haben Chile eine Marktwirtschaft nach dem Modell der Chicagoer Schule verordnet", sagt der Verfassungsrechtler Rainer Grote, der für das Heidelberg Center für Lateinamerika in Santiago de Chile gelehrt hat. "Das bedeutet, dass der Staat sich weitgehend aus dem Wirtschaftsgeschehen sowie aus Bereichen wie Bildung, Kultur und Sozialpolitik heraushält."

Versuchslabor des Neoliberalismus

Die Idee der neoliberalen Wirtschaftslehre ist es, Menschen durch ein hohes Maß an persönlicher Verantwortung und starke Eigentumsrechte zu motivieren, sich Wohlstand zu erarbeiten. Ineffiziente staatliche Strukturen und Regelungen sollen dem Wirtschaftswachstum möglichst wenig entgegenstehen. Im Ergebnis sollen alle Einkommensschichten profitieren, weil wirtschaftlich erfolgreichere Bevölkerungsteile Dienstleistungen nachfragen, die auch weniger qualifizierte Arbeitskräfte in Lohn und Brot bringen.

In Chile hat das nur teilweise funktioniert. Tatsächlich ist das Durchschnittseinkommen seit den 1980er Jahren so schnell gestiegen wie in kaum einem anderen Land Lateinamerikas. Heute verdienen in der Region nur die Menschen in Panama mehr pro Kopf.

Eine Verfassung der Ungleichheit?

An der sehr ungleichen Verteilung des Wohlstandes hat sich allerdings weniger verändert. Zwar sind die monetären Einkommensunterschiede leicht gesunken. Und auch bei den meisten anderen sozioökonomischen Faktoren schneidet Chile besser ab als seine Nachbarländer.

Die Armutsquote in Chile gehört zu den niedrigsten in Lateinamerika

Allerdings vergleichen die Chilenen sich und ihr Land heute weniger mit Bolivien und Paraguay als mit anderen Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der das Land seit 2010 angehört. Im Vergleich zu ihnen besitzt Chile eine überdurchschnittlich hohe Armutsquote. Und auch der Abstand zwischen Reichen und Durchschnittsverdienern ist wesentlich größer. Selbst gut ausgebildete Menschen haben es in Chile nach wie vor schwer, ihrer Familie eine erstklassige Ausbildung und Gesundheitsversorgung zu ermöglichen oder im Ruhestand ihren Lebensstandard zu halten.

Kein Wunder also, dass die Proteste der letzten Jahre vor allem von der Mittelschicht ausgingen. Viele von ihnen geben die Schuld dafür der chilenischen Verfassung. Dabei finden sich weltweit - unabhängig von der Ausrichtung der Verfassung - Länder mit größeren und kleineren sozialen Ungleichheiten.

Errungenschaften stehen auf dem Spiel

"Die Forderung nach einer neuen Verfassung erscheint mir stark ideologisch geprägt", sagt Gustavo Ramírez Buchheister. Der Rechtswissenschaftler von der Universidad de Magallanes in Punta Arenas promoviert derzeit in Marburg und hat die Debatte - wie er sagt - eher aus der Entfernung verfolgt. "Sicher wäre es auch möglich gewesen, dem Staat mit der aktuellen Verfassung mehr Verantwortung für soziale Teilhabe zu übertragen."

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Genau dies, sagen Kritiker, sei kaum möglich, weil die Hürden für eine Verfassungsänderung ähnlich hoch sind wie im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Tatsächlich aber hat es bereits eine ganze Reihe von Änderungen gegeben. Die größte Verfassungsreform fand im Jahr 2005 statt, als die Macht des Militärs deutlich beschnitten wurde.

Auch die häufige Behauptung, dass Eigentumsrechte zum Schaden der Allgemeinheit unantastbar seien, hält Ramírez für übertrieben: "Ja, das Eigentum ist ein hohes Rechtsgut in Chile, aber kein absolutes. Zum Beispiel werden seit Jahren bei Smog in Santiago de Chile und anderen Städten Fahrverbote und Schließungen von Industriebetrieben angeordnet, um die Gesundheit der Menschen zu schützen. Verfassungsklagen dagegen sind gescheitert."

Starke Garantie von Grundrechten

Ramírez ist nicht gegen eine neue Verfassung. Aber er sieht auch die Gefahr, dass gewisse Errungenschaften mit einer ganz neuen Verfassung verloren gehen könnten. So räume die aktuelle Konstitution den Menschen sehr starke Grundrechte ein. Und Möglichkeiten, diese auch einzufordern: "Grundrechte kann man in Chile nicht - wie in Deutschland - nur gegenüber dem Staat geltend machen, sondern auch direkt gegenüber juristischen und privaten Personen", erklärt Ramírez.

Bei Smog werden die Eigentumsrechte von Unternehmern eingeschränkt: Fabriken müssen dann schließen Bild: Ariel Marinkovic/X-Cam/dpa/picture alliance

Ein häufiges Praxisbeispiel dafür sei, dass Krankenhäuser das Recht von minderjährigen Patienten auf eine lebensrettende Bluttransfusion gegenüber den Eltern einklagen, die dem aus religiösen Gründen nicht zustimmen wollten. "Solche Verfassungsklagen sind in Chile in erster Instanz möglich - und nicht, wie etwa in Deutschland, erst in letzter Instanz."

Bahn frei für eine progressive Verfassung

Das Wahlergebnis vom vergangenen Sonntag zerstört wohl die Hoffnung der Konservativen, dass die neue Verfassung lediglich eine überarbeitete Version der aktuell gültigen sein wird. Zwar stellt die genaue politische Ausrichtung der parteiunabhängigen Volksvertreter in der verfassungsgebenden Versammlung eine Unbekannte dar. Dabei besetzen sie immerhin rund 15 Prozent der 155 Sitze. Doch auch sie gelten mehrheitlich als links oder linksliberal.

Insofern ist es wahrscheinlich, dass die progressiven Kräfte allein mit Unterstützung der 17 indigenen Vertreter eine Zwei-Drittel-Mehrheit bilden. Damit könnten sie die neue Verfassung ganz ohne Zustimmung der Rechtskoalition Vamos por Chile beschließen, um sie sie dann zur Endabstimmung dem Volk vorzulegen. In Kraft tritt das Werk, wenn ihr dann auch wieder zwei Drittel der Wähler zustimmen.

Ende eines Traumas

Wenn dies gelänge, meint Verfassungsrechtler Grote, wäre das für Chile ein historischer Schritt. Und genau dies steht für ihn auch im Vordergrund, wenn es um die Bewertung des gesamten Prozesses geht: "Der Putsch 1973 war für Chile ein Trauma, das immer noch nicht überwunden ist", sagt Grote. Die immer heftiger gewordenen Proteste seien ein Ausdruck davon: "Die junge Generation gibt sich nicht mehr damit zufrieden, dass Chile gewissermaßen eine Demokratie von Pinochets Gnaden geworden ist. Sie will eine vom Volk legitimierte Demokratie."

Zwar sei auch eine neue Konstitution kein Garant für größere politische Stabilität, sagt Grote. Die Chance dafür sei aber größer als bei den bisherigen Reformen der alten Verfassung: "In den kommenden Monaten wird in Chile der Gesellschaftsvertrag des Landes neu ausgehandelt. Über 30 Jahre nach dem formalen Ende der Diktatur ist die Zeit dafür überreif."

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Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.
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