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Was geschah in Deutschland am 30. Januar 1933?

1. Februar 2002

- "Stimme Russlands" über den Machtantritt von Adolf Hitler

Moskau, 30.1.2002, STIMME RUSSLANDS, deutsch

Am 30. Januar 1933 ist Adolf Hitler deutscher Reichskanzler geworden. Wir bringen in diesem Zusammenhang Notizen unseres Kommentators Aleksandr Scholkwer:

Obwohl seit jenen verhängnisvollen Ereignissen bereits fast sieben Jahrzehnte vergangen sind, stellen Menschen sowohl in Deutschland als auch weit außerhalb dieses Landes die Frage: Wie konnte es dazu kommen, dass in einem Land, das für seine humanistischen Traditionen bekannt ist, ein Mensch Staats- und Regierungschef wurde, den der damalige Reichspräsident Hindenburg nicht anders als "böhmischen Gefreiten" nannte und die Deutschen selbst für einen Demagogen und Poseur hielten? Was geschah überhaupt am 30. Januar 1933 – eine gewaltsame Machtergreifung oder ein legaler Machtantritt des Leiters einer der deutschen Parteien? Einige deutsche Historiker verwenden übrigens bis jetzt den Terminus "konstitutioneller Faschismus" und verweisen darauf, dass Hitler von dem Reichspräsidenten Hindenburg die Macht auf legalem Weg erhielt.

Es scheint uns aber, dass man bei der gegenwärtigen Untersuchung all dieser Probleme die Besonderheiten der wirtschaftlichen und politischen Situation in Deutschland Anfang der 30er Jahre berücksichtigen muß. Das Land spürte die Bitternis der Niederlage im ersten Weltkrieg und die Lasten des Versailler Friedensvertrages – von gewaltigen Reparationen bis hin zum Verlust eines Teils seines Territoriums. In Deutschland hatten Millionen Menschen keine Arbeit, und die große Inflation führte dazu, dass auf den deutschen Marken immer neue Nullen erschienen. Hitler und seine Partei spekulierten auf diese Schwierigkeiten und nutzten die Unzufriedenheit der Deutschen zu ihrem Zweck.

Freilich sei daran erinnert, dass die NSDAP sogar trotz der Demagogie und der zweifellosen Rednerkunst von Goebbels und Hitler selbst bei den legalen Wahlen, die damals in Deutschland ziemlich oft durchgeführt wurden, kein einziges Mal die absolute Mehrheit erhielt. Mehr noch. Die NSDAP verlor bei den Wahlen in Thüringen, die Anfang Dezember 1933 stattfanden, ein Viertel der Stimmen. Übrigens stützten sich Hitler und seine Partei nicht nur und sogar nicht so sehr auf die Unterstützung der Wähler wie auf die recht mächtige Hilfe der größten deutschen Industriellen und Bankiers. Übrigens fanden alle entscheidenden Verhandlungen Hitlers mit dem ehemaligen deutschen Kanzler von Papen und dem Sohn des Reichspräsidenten Oskar von Hindenburg im Dezember 1933 im Haus des Bankiers Schröder, in der Villa des "Kanonenkönigs" Krupp oder in der Residenz des "Sektkönigs" Ribbentrop statt. Hitler erhielt bei all diesen geheimen Verhandlungen sowohl Geld als auch politische Unterstützung in Form von Forderungen der Industriellen nach der Bildung "der Regierung der nationalen Einheit zur Rettung der deutschen Wirtschaft". Krupp, der sich damals in der Schweiz erholte, schickte sogar an den Präsidenten ein spezielles Telegramm diesbezüglich.

Letzten Endes gab Hindenburg, der damals bereits 85 Jahre alt wurde, dem Druck nach, löste den Reichstag auf und beauftragte Hitler, eine neue Regierung zu bilden. Am selben Abend des 30. Januars 1933 marschierten in Berlin und anderen deutschen Städten "braune Bataillone". Hitler verletzte sofort alle seine Versprechen. Aus der Regierung wurden sogar Vertreter von konservativen bürgerlichen Parteien vertrieben, der Reichstag wurde nicht einberufen. Nach dem Brandanschlag auf den Reichstag, den die Nazis verursachten, wurden viele Abgeordnete des deutschen Parlaments – zuerst Kommunisten und Sozialdemokraten und danach auch andere – in Konzentrationslager geworfen. Später wurde in Deutschland, wie der Bundestagspräsident Wolfgang Thierse vor einigen Tagen betonte, "eine Maschinerie des Todes geschaffen, die 13 Millionen Menschen vernichtete". Wieviel Menschen kamen in den Ländern ums Leben, die von der Wehrmacht im Krieg besetzt wurden, den Hitler entfesselt hat? Darüber kann man in den mehrbändigen Dokumenten des internationalen Nürnberger Tribunals ausführlich lesen.

Es liegt natürlich nicht nur an den 70 Jahre zurückliegenden Ereignissen. Als Thierse im Bundestag anläßlich des Gedenktages für die Opfer des Faschismus sprach, sagte er – ich zitiere – "Für Deutsche ist es besonders beschämend, wenn in ihrem Land Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wieder einen gefährlichen Nährboden finden". Im gegenwärtigen Deutschland gibt es leider tatsächlich viele Beispiele solcher "schändlichen Erscheinungen". Von den Brandanschlägen auf Ausländerwohnheime und der Verprügelung eines russischen Professors der Jenaer Universität bis zu antisemitischen Demonstrationen der neofaschistischen NPD gerade zu der Zeit, da der 60. Jahrestag der unrühmlich bekannten "endgültigen Lösung der jüdischen Frage" durch Hitler begangen wurde, der Millionen Juden zum Opfer fielen. Ist auch das gegenwärtige Spektakel mit der Absage des Prozesses im Bundesverfassungsgericht über das Verbot der NPD etwa nicht schändlich?

All diese Fakten zeugen anschaulich davon, dass die verhängnisvollen Ereignisse vom 30. Januar 1933 leider nicht nur Geschichte sind. Das ist auch eine Warnung für die Zukunft. Ich glaube, dass Wolfgang Thierse recht hat, wenn er jetzt die Deutschen aufruft, "aus ihren bitteren Erfahrungen Lehren zu ziehen". (lr)