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Politik

Was ist eigentlich in Chemnitz los?

28. August 2018

Erst ein Toter, dann Hunderte im Mob, schließlich Tausende Demonstranten - wie konnte sich die Lage in Chemnitz derart hochschaukeln? Eine Rekonstruktion der Ereignisse.

Chemnitz Demo gegen Migranten
Bild: Getty Images/S. Gallup

An einem durchschnittlichen Tag sterben in Deutschland zwischen sechs und sieben Menschen durch Tötungsdelikte, Tendenz sinkend. 2017 zählte die Polizeiliche Kriminalstatistik 2379 Mordfälle und sonstige Tötungsdelikte. Von überregionalem Interesse sind nur die wenigsten von ihnen. Das hätte vermutlich auch für den Fall des 35-Jährigen gegolten, der am Wochenende in Chemnitz bei einem Streit tödlich verletzt wurde. Allerdings hat sich dieser tödliche Konflikt auf einem Stadtfest zu einer Gemengelage hochgeschaukelt, die zunächst die sächsische Stadt Chemnitz in Atem hielt und mittlerweile Aufmerksamkeit aus der ganzen Bundesrepublik erhält.

Was war die Vorgeschichte?

Das Wochenende hätte eigentlich mit einem rauschenden Fest in Erinnerung bleiben sollen: Chemnitz feiert in diesem Jahr 875. Geburtstag. Am Rande des Stadtfests gerieten am späten Samstagabend mehrere Männer in Streit. Was genau vorgefallen ist, ist noch unklar; sicher ist, dass ein Messer gezückt wurde. Drei deutsche Männer wurden verletzt, einer von ihnen starb im Krankenhaus. Schnell ging es im Netz um die Herkunft der Täter und des Opfers: Der Tote ist Daniel H., ein 35-jähriger Deutscher mit offenbar kubanischen Wurzeln, als tatverdächtig galten schnell ein Syrer und ein Iraker. Außerdem beschäftigten sich Diskutanten online mit dem Gerücht, dass es beim Streit um eine vorausgegangene sexuelle Belästigung einer Frau gegangen sei. Dazu hatte die Polizei am Tag danach "keinerlei Anhaltspunkte".

Am Montag nach der Tat sammeln sich am Tatort die Blumen - und die DemonstrantenBild: DW/B. Knight

Was wissen wir über die Tötung - und was nicht?

Die beiden Tatverdächtigen, ein 22-jähriger Iraker und ein 23-jähriger Syrer, sitzen seit Montag in Untersuchungshaft. Ihnen wird gemeinschaftlicher Totschlag vorgeworfen. Der Tathergang und somit auch das Motiv sind bisher noch unklar, zumindest wollte die Staatsanwaltschaft am Dienstag keine Details bekanntgeben. Allenfalls eine Tat aus Selbstschutz schließen die Ermittler aus: "Nach dem bisherigen Erkenntnisstand bestand keine Notwehrlage für die beiden Täter", schrieb eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft. Die kubanischen Wurzeln des im damaligen Karl-Marx-Stadt geborenen Toten konnte die Staatsanwaltschaft bislang nicht bestätigen.

Was ist nach der Tötung in Chemnitz passiert?

Am Sonntag verdichteten sich Informationen und Gerüchte zu einem hochexplosiven Gemisch: Eine rechtextreme Hooligan-Gruppe rief bei Facebook "Fans und Sympathisanten" unter Nennung eines Treffpunkts und einer Uhrzeit dazu auf, zusammen zu zeigen, "wer in der Stadt das Sagen hat". Die Gruppierung wird vom sächsischen Verfassungsschutz beobachtet; insgesamt zählt die Behörde etwa 150 bis 200 Menschen in Chemnitz zur rechtsextremen Szene.

Dem mehrfach weiterverbreiteten Aufruf folgten am Sonntag etwa 800 Personen, darunter gewaltbereite Rechtsextreme. Handyvideos zeigen Übergriffe am Rande des spontanen Aufmarschs: Einige schüchterten Menschen ein, die sie für Ausländer hielten und hetzten ihnen hinterher - die Bundesregierung sprach tags darauf von einer "Hetzjagd", die "in unseren Straßen keinen Platz hat". Bislang liegen der Polizei drei Anzeigen vor: In einem Fall waren eine 15-jährige Deutsche und ihr 17-jähriger afghanischer Begleiter attackiert worden, später waren ein 18 Jahre alter Syrer geschlagen und ein 30-jähriger Bulgare festgehalten und bedroht worden. Die Polizei war während des Auflaufs nicht immer Herr der Lage; Videos zeigen auch, wie Demonstranten Beamten attackieren. Die Polizei setzte Pfefferspray und Schlagstöcke ein, um die Kontrolle zurückzuerlangen. Auch das Stadtfest wurde vier Stunden vor dem geplanten Ende abgebrochen.

Am Montagabend versammelten sich in der Chemnitzer Innenstadt tausende Bürger zu einer Demonstration und einer Gegendemonstration: Dem Aufruf der rechtsextremen Vereinigung "Pro Chemnitz" folgten nach Polizeiangaben 6000 Menschen, zur Kundgebung unter anderem der Linken kamen, ebenfalls laut Polizei, 1500 Menschen. Bis circa 21 Uhr gelang es den Bereitschaftspolizisten noch die beiden Lager auseinander zu halten. Dann flogen erste Feuerwerkskörper, Flaschen und weitere Wurfgeschosse, die Lage wurde zunehmend unübersichtlich, und wieder geriet die Polizei in die Defensive. Zwischenzeitlich verschanzten sich 35 Vermummte hinter einer Barrikade aus Stühlen und Tischen, die die Polizei unter Einsatz von Pfefferspray räumte. Knapp 600 Beamte waren in Chemnitz im Einsatz, zur Abschreckung wurden zwei Wasserwerfer aufgefahren.

Die rechte Vereinigung "Pro Chemnitz" scharte ihre Anhänger unter der Büste von Karl MarxBild: DW/B. Knight

Mehrere Rechtsextreme zeigten den Hitlergruß, in mindestens zehn Fällen hat die Polizei ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Mindestens 18 Demonstranten aus beiden Lagern und zwei Polizisten wurden verletzt. Laut Polizei wurden auf dem Heimweg vier Teilnehmer der rechten Demo verletzt, nachdem 15 bis 20 Angreifer auf sie losgegangen waren. Zwei von ihnen mussten ins Krankenhaus.

Wie reagiert der Rest des Landes auf die Ereignisse?

Unter das Entsetzen der Öffentlichkeit über die Vorfälle mischt sich zunehmend Kritik an der sächsischen Polizei und der CDU-geführten Landesregierung. Der Chef der Grünen-Fraktion im Bundestag, Anton Hofreiter, warf der Landesregierung vor, den Kampf gegen Rechts "viel zu lange vernachlässigt" zu haben. "Sie hat dort völlig versagt."

Der Generalsekretär der sächsischen CDU, Alexander Dierks, wies im Deutschlandfunk Vorwürfe zurück, die Landesregierung habe rechte Gefahren unterschätzt. Zu den Ausschreitungen des Vorabends sagte er: "Ich denke, dass die sächsische Polizei am gestrigen Tag durchaus vorbereitet war und dass es auch gelungen ist, Recht und Ordnung durchzusetzen." Auch die Polizeigewerkschaft GdP lobte die "hervorragende Arbeit" der Beamten. Ein Sprecher der sächsischen Polizei räumte indes ein, man habe die Zahl der Demonstranten am Montag unterschätzt.

Aus verschiedenen Teilen der Gesellschaft wurde Entsetzen über den 800 Personen starken rechten Mob laut, der am Sonntag durch Chemnitz gezogen war. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Atila Karabörklü, erklärte: "Diese Übergriffe haben seit den 1990er Jahren eine traurige Kontinuität in unserem Land." Ausdrücklich nannte er die tagelangen Krawalle in Rostock-Lichtenhagen im August 1992, die mit einem brennenden Asylbewerberheim endeten. Karabörklü schrieb, es "gebe einen Zusammenhang zwischen den Pogromen in den 1990er Jahren und der tatenlosen Staatsgewalt sowie den NSU-Morden und der Staatsgewalt, die Opfer zu Täter*innen gemacht hat".

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer und Kanzlerin Angela Merkel bei einer Sitzung der CDU-LandtagsfraktionBild: picture-alliance/dpa/S. Kahnert

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) sagte, der Staat lasse sich das Gewaltmonopol nicht nehmen. Er geißelte die "politische Instrumentalisierung durch Rechtsextremisten" als "abscheulich". Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD) warnte im "Handelsblatt" vor rechtsfreien Räumen. "Wer Menschen bedroht, angreift und gegen Minderheiten hetzt, muss unmittelbar zur Rechenschaft gezogen werden", sagte Barley. "Jagdszenen und Selbstjustiz darf es in Deutschland nie wieder geben." Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr Innenminister Horst Seehofer (CSU) boten der sächsischen Polizei die Unterstützung des Bundes an. Merkel sagte: "Es darf auf keinem Platz und keiner Straße zu solchen Ausschreitungen kommen."

Um eine einheitliche Haltung ringt die rechtspopulistische AfD, die bei den Landtagswahlen 2019 darauf hoffen darf, zweitstärkste Kraft in Sachsen zu werden. Stunden nach dem Aufmarsch des rechten Mobs am Sonntag erregte ein Bundestagsabgeordneter der AfD Aufsehen, als er bei Twitter schrieb, es sei "Bürgerpflicht, die todbringende 'Messermigration' zu stoppen". Ein anderer Bundestagsabgeordneter schrieb, "nicht die friedlichen Proteste der couragierten Chemnitzer" seien das Problem, "sondern die Vergewaltigungen und die Morde durch illegale Einwanderer, die Migrantengewalt!" In anderen Mitteilungen distanzierte sich die AfD von der sonntäglichen Zusammenkunft und erklärte, der Staat müsse sein Gewaltmonopol wieder durchsetzen.

Immer wieder Sachsen?

Rechtsextreme und Fremdenfeinde schädigen seit Jahren immer wieder den Ruf des Freistaats Sachsen und seiner vier Millionen Einwohner: Die Terrorgruppe NSU konnte bis zu ihrer Enttarnung 2011 in Sachsen unbehelligt abtauchen. In der Landeshauptstadt Dresden gehen seit 2014 regelmäßig "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" bei ihren PEGIDA-Demos auf die Straße. 2015 lieferte sich ein rechter Mob in Heidenau Straßenschlachten mit der Polizei, um ein geplantes Flüchtlingsheim in einem ehemaligen Baumarkt zu verhindern.

Im Frühjahr 2016 blockieren aufgebrachte Fremdenfeinde in Clausnitz einen Bus mit Flüchtlingen, die Polizei holte diese mit Gewalt aus dem Bus. Wenige Wochen später behindern johlende Schaulustige in Bautzen die Löscharbeiten an einer brennenden Flüchtlingsunterkunft. Im September richtet sich der öffentliche Fokus wieder auf die Stadt, als in der Bautzener Innenstadt 80 Rechte und 20 Flüchtlinge aufeinander losgehen. In der Kleinstadt Freital hat eine rechtsterroristische Bürgerwehr mehrere Sprengstoffanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte verübt und weitere geplant; die Täter wurden im März 2018 zu langen Haftstrafen verurteilt. In Sachsen gab es 2017 laut Verfassungsschutzbericht 1959 rechtsextremistische Straftaten, darunter 95 Gewalttaten. Davon spielten sich 160 Straf-, darunter sechs Gewalttaten, in Chemnitz ab.

Kommt Chemnitz am Tag nach den großen Demos wieder zur Ruhe?Bild: DW/B. Knight

Erst vor wenigen Wochen geriet die sächsische Polizei in die Kritik, weil sie am Rande einer Demonstration gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Fernsehteam des ZDF an seiner Arbeit hinderte. Ein in diesem Zusammenhang zu zweifelhaftem Ruhm gekommener Demonstrant stellte sich später als Mitarbeiter des sächsischen Landeskriminalamts heraus.

Allerdings sind Extremismus und Fremdenfeindlichkeit mitnichten ein rein sächsisches Problem: In allen deutschen Bundesländern gibt es fremdenfeindliche Übergriffe, die Chronik der Amadeu Antonio Stiftung und von Pro Asyl zählte im vergangenen Jahr 1713 flüchtlingsfeindliche Straftaten im gesamten Bundesgebiet. Sachsen kommt in dieser Aufzählung etwa 240 Mal vor, das entspricht 61 Fällen je Million Einwohner. Trauriger Spitzenreiter ist Brandenburg mit 85 Fällen je Million Einwohner. Insgesamt war die Zahl der Übergriffe gegen Flüchtlinge zuletzt rückläufig.

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