1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Was ist ein Genozid?

13. Januar 2017

Die Regierung Malaysias und Aktivisten werfen Myanmar Genozid an den Rohingya vor. Die Regierung um Aung San Suu Kyi weist das zurück. Der Historiker Boris Barth erläutert im Gespräch mit der DW den umstrittenen Begriff.

Myanmar Regierung weist Genozid-Vorwürfe an Rohingya zurück
Bild: Getty Images/AFP/Soe Than Win

Deutsche Welle: Was bezeichnet der Begriff Genozid?

Boris Barth: Bei dem Begriff Genozid handelt es sich um ein Kunstwort. Der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin hat ihn 1944 geprägt. Er war der Ansicht, dass das, was in Auschwitz passiert ist, nur unzureichend mit dem Begriff Gräueltat bezeichnet werden kann. Der Holocaust [die industrielle Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden, Anm. d. Red.] sei etwas ganz Neues. Der Begriff hat sich extrem schnell in allen Sprachen durchgesetzt. Offensichtlich gab es ein starkes Bedürfnis, diesem neuartigen Verbrechen einen Namen zu geben. Der Begriff ist dann eingegangen in die Genozid-Konvention der Vereinten Nation von 1948.

Um die Verwirrung rund um diesen Begriff verstehen zu können, muss man sich die unterschiedliche Entwicklung in verschiedenen Sprachen anschauen. In Deutschland und im Völkerrecht wird der Begriff Genozid sehr eng verwendet, und zwar als Synonym zu Völkermord. In den USA ist das ganz anders. Dort wird der Begriff "genocide" inflationär verwendet. Er wird sogar für Ereignisse verwendet, bei denen niemand ums Leben gekommen ist. Der Alltagsgebrauch unterscheidet sich sehr stark vom völkerrechtlichen Gebrauch. Die Historikerin Helen Fein hat einmal gesagt: "Wenn es schrecklich ist, dann muss es ein Genozid sein."

Legen wir die enge Bedeutung zugrunde. Welche Kriterien müssen erfüllt sein, bevor man von einem Völkermord sprechen kann?

Es muss eine größere Zahl von Menschen ermordet werden, und zwar aus rassischen, ethnischen oder religiösen Gründen. Der Täter ist dabei in der Regel ein Staat, der die erklärte Absicht hat, eine bestimmte ethnische oder religiöse Gruppe auszulöschen. So ist das in der UN-Konvention festgelegt. Die Konvention schließt ausdrücklich politische Gruppen aus, was eine Schwäche ist. Das hat damit zu tun, dass die Konvention, als sie beraten wurde, von möglichst vielen Staaten unterzeichnet werden sollte. Aus Rücksicht auf die Sowjetunion wurden politische Gründe explizit ausgeschlossen.

Um nun konkret festzustellen, ob ein Völkermord vorliegt oder nicht, muss die schwierige Frage nach der Intention beantwortet werden. Um zu wissen, ob ein Staat tatsächlich die Absicht hat, einen Völkermord zu begehen, muss man interne Kenntnisse haben. Denn: kaum ein Staat wird öffentlich erklären, er habe vor, einen Völkermord zu begehen.

Rohingyas in Malaysia erklären sich mit ihren Landsleuten solidarisch und fordern ein Ende der GewaltBild: Imago/ZUMA Press

Wenn es nicht einfach ist, den Begriff zu bestimmen, lässt er sich wenigstens klar von "Verbrechen gegen die Menschheit" oder "ethnischen Säuberungen" abgrenzen?

Es ist wichtig, dass Sie "Verbrechen gegen die Menschheit" und nicht, wie es häufig übersetzt wird, "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" gesagt haben. Es ging ja nicht darum, dass die Nazis unmenschlich waren. Völkermord ist ein Angriff auf die Menschheit insgesamt.

Ethnische Säuberungen wiederum können, müssen aber nicht sehr gewaltsam sein. Sie bedeutet erst mal nur, dass eine Gruppe von Menschen aufgrund ethnischer Kriterien in einem Land nicht mehr geduldet wird. Das kann relativ friedliche Umsiedlungsaktionen nach sich ziehen, es kann aber auch extrem brutal sein, wo die Grenze zum Völkermord fließend ist. Eine klare Abgrenzung ist nicht möglich. Allerdings kann man aus der Geschichte schon sagen, dass ethnische Säuberungen sehr häufig einem Völkermord vorausgehen.

Obwohl es die Genozid-Konvention seit 1948 gibt, ist sie noch nie in Kraft getreten. Warum nicht?

Die Konvention sieht einen Automatismus vor. Wenn der Sicherheitsrat feststellen würde, dass in einem Land ein Völkermord begangen wird, muss interveniert werden. Wie das geschehen soll, ist allerdings nicht genau festgelegt. Der Kontext legt allerdings nahe, dass militärisch interveniert werden muss.

Der klassische Fall, wo die Konvention hätte greifen müssen, ist Ruanda 1994. Vor laufenden Fernsehkameras wurden fast eine Million Menschen abgeschlachtet. Der UN-Sicherheitsrat hat sich aber dagegen entschieden, von einem Völkermord zu sprechen, weil er die zwangsläufige Folge - die militärische Intervention - gescheut hat.

Es gibt Anzeichen, dass bei Staatsbildung- und Demokratisierungsprozessen Gewalt entlang ethnischer Grenzen zunimmt. Warum?

Es muss nicht immer unbedingt ethnische Gewalt sein, aber Staatsbildungsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert waren sehr häufig von Gewalt, Bürgerkriegen und ethnischer Gewalt begleitet. Es gibt viele verschiedene Gründe, aber mit Blick auf das Thema der Bildung einer Nation, wie das in Myanmar der Fall ist, muss der entstehende Staat definieren, wer dazugehört und wer nicht. In Staaten, die ethnisch oder sprachlich homogen sind, ist das unproblematisch. Die Frage stellt sich im Grunde genommen gar nicht. In multiethnischen Staaten, in dem viele verschiedene Sprachen gesprochen werden, führt die Frage der Zugehörigkeit fast zwangsläufig zu Spannungen, bis hin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und Völkermord. Insbesondere populistische Führer nutzen diese Schwierigkeiten, um sich selbst an die Macht zu bringen. Der klassische Fall, den in Europa jeder vor Augen hat, war der Jugoslawien-Krieg in den 1990er Jahren.

Der Begriff wird also auch als politischer Kampfbegriff missbraucht?

Ja, das ist leider der Fall. So gab es zum Beispiel eine große Debatte in Australien, wo die Kinder von Aborigines ihren Müttern weggenommen und in Heime gesteckt wurden. Dabei ist niemand ums Leben gekommen. Das war ohne Zweifel ein rassistisches Verbrechen. Im australischen Englisch wird dafür üblicherweise der Begriff "genocide" verwendet. Aus deutscher Perspektive ist das eine problematische Verwendung. Denn wenn jede Gräueltat in der Geschichte der Menschheit ein Genozid war, wo ist dann die Abgrenzung zum Völkermord? Wo ist dann die Abgrenzung zu beispielsweise Auschwitz? Als der Begriff 1944 geschaffen wurde, sollte er ja einen Tabubruch zum Ausdruck bringen, der etwas Neues darstellt. Das Verbrechen der Verbrechen, wie Lemkin mal gesagt hat.

Wie beurteilen Sie denn abschließend die Verwendung des Begriffs "genocide"?

Ich wäre grundsätzlich vorsichtig. Den Begriff Völkermord würde ich nur dann benutzen, wenn wirklich klar ist, dass die Regierung die Absicht hat, ein Volk zumindest teilweise zu vernichten. Im Übrigen wäre es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass eine enge Auslegung des Begriffs Genozid, wie ihn auch das Völkerrecht vorsieht, keine Verharmlosung der Verbrechen darstellt, die letztlich nicht Völkermord genannt werden. Ein Beispiel: Im frühen Stalinismus sind in der Ukraine durch den sogenannten Holodomor mindestens drei Millionen Menschen verhungert. Stalin hat das billigend in Kauf genommen, aber auch nicht geplant. Eine Absicht ist nicht nachweisbar. Wenn ich nun aber sage, dabei handelte es sich nicht um einen Genozid, dann bedeutet das keineswegs, dass ich die drei Millionen Toten verharmlose. Es besteht gar kein Zweifel daran, dass es sich um eines der größten Verbrechen handelt, welches das stalinistische System begangen hat.

Boris Barth ist Historiker und hat 2006 ein Buch über die Geschichte des Genozids veröffentlicht.

Das Interview führte Rodion Ebbighausen.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen