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Politik

Was kostet ein gutes Leben in Deutschland?

11. Oktober 2022

In der Bundesrepublik ist jeder Sechste von Armut bedroht. Die steigenden Preise für Gas, Strom und Lebensmittel stellen das Land vor eine vollkommen neue Herausforderung.

Arm aussehender Mann im Rollstuhl fährt an teurer Werbung vorbei
In Berlin sind die Kontraste besonders gut zu erlebenBild: Sabine Kinkartz/DW

Obdachlose, die auf der Straße schlafen, Mütter, die auf Mahlzeiten verzichten, um ihre Kinder besser ernähren zu können, Rentner, die in Mülleimern nach Pfandflaschen suchen: Obwohl Deutschland eines der reichsten Länder der Welt ist, sind 13,8 Millionen Menschen von Armut bedroht oder direkt betroffen. Zu diesem Ergebnis kommt der Paritätische Wohlfahrtsverband in seinem aktuellen Armutsbericht. Die Bundesregierung stellt in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht 2022 zudem fest, dass es eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich gibt.

Das heißt nicht, dass in Deutschland Menschen verhungern oder erfrieren müssen, weil sie keine Hilfe bekommen können. Oder an Krankheiten sterben, weil es keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung gibt. Sozialwissenschaftlich wird zwischen absoluter Armut, bei der Menschen lebenswichtige Grundbedürfnisse nicht befriedigen können, und relativer Armut unterschieden. Sie bemisst sich an den durchschnittlichen Lebensumständen einer Gesellschaft.

Reichtum und Armut sind ungleich verteilt

Auf der Liste der reichsten Länder der Welt, zuletzt aktualisiert im Jahr 2021, steht Deutschland auf Platz 20. Die Rangfolge basiert auf dem Wohlstand des Landes, messbar am sogenannten Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Dafür rechnet man den Wert aller im Land hergestellten Waren und Güter zusammen und teilt diese Zahl durch die Einwohnerzahl. In Deutschland ergibt das etwas mehr als 50.700 US-Dollar pro Kopf - gemessen vom Säugling bis zum Greis.

Erfolgreiche Unternehmen haben Deutschland zu einem reichen Land gemachtBild: Armin Weigel/dpa/picture alliance

Zum Vergleich: Als reichstes Land der Welt gilt Luxemburg. Der kleine europäische Staat erwirtschaftete 2021 ein Bruttoinlandsprodukt von rund 136.700 US-Dollar pro Kopf. Die zehn ärmsten Länder der Welt liegen in Afrika. Als ärmstes Land gilt Burundi mit einem BIP pro Kopf von gut 270 US-Dollar.

Armut - eine Frage der Definition

Während in den ärmsten Ländern der Welt viele Menschen in absoluter Armut leben, sind Menschen in Europa in der Regel von relativer Armut betroffen. Sie müssen mit erheblichen materiellen Einschränkungen leben. Meistens kommen sie nur über die Runden, wenn sie auf vieles verzichten, was für den Großteil der Bevölkerung selbstverständlich ist. 

In der EU gilt als armutsgefährdet oder arm, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in dem jeweiligen Land zur Verfügung hat. Sind es weniger als 50 Prozent, gilt man als sehr arm.

In den letzten Jahren ist die Zahl derer, die als arm gelten, stetig gestiegen

Für Deutschland heißt das, dass Alleinstehende, die monatlich über weniger als 1148 Euro verfügen, als arm gelten. Bei Alleinerziehenden mit einem kleinen Kind sind es 1492 Euro und bei einem Paarhaushalt mit zwei kleinen Kindern 2410 Euro. Zugrunde gelegt ist, was nach Abzügen durch Steuern und Sozialbeiträgen übrig bleibt, plus staatliche Leistungen wie Kindergeld oder Wohngeld.

Arm trotz Grundsicherung

Deutschland versteht sich als Sozialstaat. Wer keine Arbeit findet oder nicht arbeiten kann und kein Einkommen hat, bekommt die soziale Grundsicherung, umgangssprachlich auch Hartz IV genannt. Es gibt Geld für den Lebensunterhalt, außerdem werden die Miete, die Kosten für Heizung und warmes Wasser, sowie die Kranken- und Pflegeversicherung übernommen. 2020 lebten in Deutschland rund 5,3 Millionen Menschen ganz oder teilweise von Hartz IV.

Laut dem Deutschen Gewerkschaftsbund leben 1,5 Millionen Kinder von Hartz IVBild: Jens Büttner/dpa/picture alliance

Alleinstehende und Alleinerziehende bekommen 449 Euro pro Monat. Davon müssen Lebensmittel, Kleidung und unter anderem Körperpflege, Hausrat, Internet, Telefon und Strom bezahlt werden. Leben zwei Bedürftige in einer Partnerschaft, dann reduziert sich der jeweilige Regelsatz auf je 404 Euro. Für jedes Kind wird altersabhängig zwischen 285 und 376 Euro ausgezahlt. 

Wie viel Geld braucht ein Mensch zum Leben?

Wohlfahrtsverbände kritisieren immer wieder, dass die Grundsicherung nicht vor Armut bewahre und für eine "echte Teilhabe" am Leben in Deutschland nicht ausreiche. Die Bundesregierung will die Regelsätze ab 2023 auf 502 Euro anheben. Laut dem Sozialwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge wird aber auch das nicht ausreichen. Er hält 650 Euro für nötig, um "in Würde" leben und sich beispielsweise auch gesund ernähren zu können.

Arm trotz Hartz IV, diese Befürchtung brachte Demonstranten schon 2005 auf die StraßeBild: Waltraud Grubitzsch/ZB/picture alliance

Tatsächlich ist die Grundsicherung knapp kalkuliert. Für Nahrungsmittel sind täglich fünf Euro pro Person vorgesehen. "Damit das reicht, kaufen Armutshaushalte häufig entweder weniger oder qualitativ schlechtere Lebensmittel ein", heißt es in einer 2021 veröffentlichten Analyse der Heinrich-Böll-Stiftung. Die den Grünen nahestehende Stiftung spricht in diesem Zusammenhang von Ernährungsarmut.

Auch Rentner kämpfen

Ein Zustand, der sich wegen der Inflation zunehmend verschärft und auch denjenigen zu schaffen macht, die bislang noch ohne Hilfe über die Runden gekommen sind. Immer mehr Menschen können die gestiegenen Preise für Brot, Milch, Obst und Gemüse im Supermarkt nicht mehr bezahlen. Das bekommen auch die rund 960 Tafeln in Deutschland zu spüren, Einrichtungen, die Lebensmittelspenden sammeln und an Bedürftige verteilen. 2020 nahmen rund 1,1 Millionen Menschen die Tafeln in Anspruch. Inzwischen sollen es zwei Millionen sein.

Die Inflationsrate stieg zuletzt überall drastisch

Armut ist zunehmend auch ein Problem unter älteren Menschen. Die Rente ist zu klein - selbst nach Jahrzehnten in Arbeit. Frauen sind eher betroffen als Männer, weil sie eher in Teilzeit gearbeitet haben und schlechter bezahlt wurden. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung geht davon aus, dass 2036 rund 20 Prozent der Rentnerinnen und Rentner von Altersarmut betroffen sein könnten.

Verdeckte Armut 

Zwar können Rentner, deren Altersversorgung besonders niedrig ist, Leistungen aus der Grundsicherung beantragen. Genauso wie Menschen, deren Arbeit schlecht bezahlt wird, oder die nur Teilzeit arbeiten können, weil sie Kinder erziehen. Viele Menschen scheuen sich aber davor, zum Amt zu gehen und ihre Bedürftigkeit einzugestehen.

Wer arm ist, hat zum Monatsende nur noch ein wenig Kleingeld übrigBild: picture alliance/Norbert Schmidt

Studien gehen davon aus, dass zwei Drittel der Berechtigten aus Scham auf Zuschüsse verzichten. Ältere Menschen versuchen lieber, länger zu arbeiten. Zumindest stunden- oder tageweise. Oder sie sammeln Pfandflaschen aus Mülleimern, um ein paar Euro mehr im Portemonnaie zu haben. 

Arm trotz Arbeit

In Deutschland steigt auch die Zahl der Menschen, die trotz Vollzeitjob von ihrem Einkommen nicht leben können. Zwar ist der Mindestlohn auf zwölf Euro pro Stunde gestiegen. Alleinstehende ohne Kinder, die 40 Stunden pro Woche arbeiten, kommen damit auf ein Netto-Gehalt von rund 1480 Euro. Das liegt zwar nominell oberhalb der Armutsgrenze, wird aber von der Inflation praktisch aufgefressen.

Das Problem kennen auch Studierende, vor allem wenn sie von BaföG leben, wie die staatliche Ausbildungsfinanzierung heißt. Der monatliche Höchstsatz liegt bei 934 Euro, in der Summe sind der Wohnzuschlag und die Krankenversicherung enthalten. Ein Satz, der deutlich unter der relativen Armutsgrenze in Deutschland liegt.

Kaum Besserung in Sicht

Die Bundesregierung will 200 Milliarden Euro einsetzen, um die Folgen der hohen Energiepreise abzufedern. Damit werden aber bei weitem nicht alle zusätzlichen Kosten aufzufangen sein und die Inflation bleibt nach Ansicht von Ökonomen hoch. Das Leben in Deutschland wird teuer bleiben und das bekommen vor allem diejenigen zu spüren, die keine finanziellen Puffer und Rücklagen haben.

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