Der Brexit geht vor unseren Augen vor die Hunde. Da lohnt es sich, noch mal darauf zu schauen, wer Großbritannien und der EU das Ganze 2016 eingebrockt hat - und was derjenige heute so treibt, findet Rob Mudge.
Anzeige
Boris Johnson, Michael Gove, David Davis. Sogar für den unbedarften Beobachter müssen diese Namen mit dem heillosen Durcheinander verbunden sein, das Großbritannien und vielleicht auch die Conservative Party zu zerreißen droht.
Und auch, wenn man sich wirklich um Neutralität bemüht, muss man doch zugeben: Sie verdienen die Prügel, die sie gerade einstecken müssen. Nur: Wir würden Johnsons jüngste Mätzchen gar nicht diskutieren (zumindest nicht in diesem Kontext), wenn nicht ein gewisser David Cameron vor zwei Jahren die Parteipolitik über sein Land gestellt hätte.
Da drängt sich die Frage auf, was der ehemalige Premierminister und Urheber des Brexit-Desasters denn heute so macht. "Er arbeitet an seinen Memoiren, so viel ich weiß", sagt Kevin Theakston, Professor für Politikwissenschaft an der University of Leeds, der DW. "Und ich dachte, er wollte eigentlich schon fertig sein. Aber Cameron hält die Memoiren zurück, sie sollen wohl erst herauskommen, wenn der Brexit abgeschlossen ist und sich der Staub ein wenig gelegt hat."
Das unselige Referendum
Nur um das noch einmal kurz zu rekapitulieren: Cameron machte 2015 das schicksalhafte Versprechen, ein Referendum über einen EU-Austritt des Vereinigten Königreichs abzuhalten, falls die Tories die Wahl gewinnen würden. Im Grunde genommen sollte das die Hardliner in seiner Partei befrieden - die waren besorgt, dass die UK Independence Party (UKIP) von Nigel Farage ihnen Wähler abjagen und somit der Labour-Party einen Sieg bescheren würde. Um das zu vermeiden und EU-kritische Wähler von sich zu überzeugen, wollten die Tories von Cameron also die Zusage für eine solche Abstimmung.
Und Cameron - in dem festen Glauben, dass die Wähler letzten Endes für einen Verbleib in der EU stimmen würden - gab sie ihnen. Nur ist der Plan, wie wir heute wissen, leider nicht aufgegangen. "Er fühlt sich immer noch gedemütigt, wenn er daran zurückdenkt, selbst zum Referendum aufgerufen, es dann aber verloren zu haben", vermutet Theakston. "Und er fürchtet sich davor, als derjenige in die Geschichte einzugehen, der Großbritannien quasi aus Versehen aus der EU herauskatapultiert und damit die Zukunft des Landes negativ beeinflusst hat. Und das alles aus parteipolitischem Kalkül und einer Risikobereitschaft heraus, die nach hinten losgegangen ist."
Brexit: Zeitreise
Mehr als die Hälfte der Briten jubelt am 23. Juni 2016. 51,9 Prozent haben für den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union gestimmt. Nach 43 Jahren beginnt der Scheidungsprozess.
Bild: picture-alliance/dpa/A. Delvin
Oktober 2019: Neuwahlen statt Brexit
Die EU verlängert die Austrittsphase bis zum 31. Januar 2020. Premier Johnson bricht sein Versprechen und setzt stattdessen Neuwahlen durch. Kurz vor Weihnachten ein neues Unterhaus gewählt werden. Ist das der Ausweg aus der Brexit-Sackgasse? Ein Abkommen mit der EU liegt weiter auf Eis.
Bild: Reuters/H. McKay
Oktober 2018: Neuer Deal scheitert
Premier Johnson handelt einenm leicht veränderten Brexit-Deal aus, findet aber auch dafür keine Mehrheit im britischen Unterhaus. Jean-Claude Juncker, EU-Kommissionspräsident, hält den Brexit für eine gigantische Verschwendung von Zeit und Energie.
Bild: picture-alliance/Photoshot/Z. Huansong
Juli 2019: Neuer Hausherr
Boris Johnson wird neuer konservativer Parteichef und neuer Premierminister. Sein Versprechen: Austritt aus der EU am 31. Oktober mit oder gerne auch ohne Austrittsabkommen, "geschehe was wolle".
Bild: Getty Images/J. J. Mitchell
Mai 2019: May gibt auf
Unter Tränen gibt die Premierministerin ihren Rücktritt zum 07. Juni bekannt. Sie scheitert am Brexit-Deal, für den sie keine parlamentarische Mehrheit findet. "Es war mir eine Ehre, dem Land zu dienen", sagt sie.
Bild: Reuters/H. McKay
April 2019: Verlängerung
Premierministerin Theresa May schafft es nicht, ihren Brexit-Vertrag durch das Unterhaus zu manövrieren. Das Vereinigte Königreich bleibt bis zum 31. Oktober in der EU, mindestens.
Bild: picture-alliance/empics
Januar 2019: Order!
Die britische Regierung verliert mehrere Abstimmungen im Unterhaus. John Bercow, der Sprecher des Parlaments, setzt seine berühmten Ordnungsrufe ein, um die teils chaotischen und verwirrenden Debatten zu leiten. Der Austrittsvertrag mit der EU fällt mehrfach durch.
Bild: Reuters TV
November 2018: Backstop
EU-Unterhändler Michel Barnier ist zuversichtlich: Die EU und das Vereinigte Königreich einigen sich bei einem Sondergipfel auf ein Austrittsabkommen. Vereinbart wird, dass Nordirland und Großbritannien so lange in einer Zollunion mit der EU bleiben, bis eine andere Regelung gefunden wird. Diese Rückversicherung (Backstop) soll eine "harte" Grenze auf der irischen Insel verhindern.
Bild: Reuters/Y. Herman
März 2018: Sicherheit bis Ende 2020
Der EU-Gipfel beschließt, Großbritannien bis Ende Dezember 2020 eine Übergangsphase zu gewähren. Alles bleibt wie es ist, nur darf Großbritannien nicht mehr mit entscheiden. EU-Kommissionspräsident Juncker (re.) scheint Premierministerin May zu trösten: Der Brexit-Vertrag selbst ist immer noch nicht fertig.
Bild: Reuters/F. Lenoir
März 2018: Streit um eine imaginäre Grenze
Außenminister Johnson meint in einer Fernseh-Talkshow, die künftige Grenze zwischen Nordirland und Irland könne so aussehen wie die Grenze für die City-Maut in London. Der Vorschlag löst Kritik in Brüssel, Dublin und Belfast aus. Johnson nehme das Problem nicht Ernst, das die Brexit-Verhandlungen blockiert. Im Bild: Protest gegen eine mögliche EU-Außengrenze quer über die irische Insel (2017)
Bild: Getty Images/C. McQuillan
Dezember 2017: Übergang möglich
Nach dem EU-Gipfel bietet Ratspräsident Donald Tusk den Briten eine Übergangszeit zwischen Brexit und Inkraftreten neuer Abkommen an: Bis zum Dezember 2020, ohne Stimmrecht, Verbleib im Binnenmarkt, volle Mitgliedsbeiträge. "Die Verhandlungen werden dramatisch schwer", glaubt Tusk.
Bild: picture-alliance/AP Photo/dpa/O. Matthys
Dezember 2017: Ausreichender Fortschritt
Die EU und Großbritannien einigen sich mit drei Monaten Verspätung auf die Modalitäten des Austritts: London ist bereit, für die "Brexit"-Abrechnung zu zahlen. Wie viel wird offiziell nicht festgelegt. Eine Grenze zwischen Nordirland und Irland wird ausgeschlossen. EU-Bürgerrechte sollen in Großbritannien bleiben können. Für Briten gilt das gleiche in der EU. Einzelheiten bleiben ungeklärt.
Bild: Reuters/Y. Herman
November 2017: Die Rechnung bitte
Großbritannien erklärt sich angeblich bereit, ca. 45 Milliarden Euro an fälligen Beiträgen, Pensionen und laufenden Verplichtungen in kommende EU-Haushalte einzuzahlen. Zuhause wird Premierministerin May für die Zugeständnisse hart kritisiert. Ist ein harter Brexit ohne Abkommen mit der EU oder ein weicher Brexit mit Zugang zum Binnenmarkt der bessere Weg?
Bild: Reuters/P. Noble
Oktober 2017: May im Pech
Wegen einer Hustenattacke misslingt die Grundsatzrede der Premierministerin auf dem Parteitag der Konservativen. Teile des Schriftzuges fallen herab, hier fehlt bereits ein "F". Inhaltlich bietet Theresa May nichts Neues. Die fünfte Verhandlungsrunde zwischen EU und Großbritannien endet ohne Ergebnis. Sackgasse.
Bild: picture-alliance/PA Wire/P. Byrne
September 2017: Brexit im Wahlkampf
Brexit-Vorkämpfer Nigel Farage liebt die deutschen Rechtspopulisten von der AfD. Mit der AfD-Politikerin Beatrix von Storch kämpft er im Bundestagswahlkampf gegen die EU. Die Bereitschaft seiner Premierministerin eine zwei Jahre währende Übergangsphase nach dem Brexit einzulegen, lehnt Farage brüsk ab.
Bild: picture-alliance/dpa/K. Nietfeld
August 2017: Nicht amüsiert
Wieder scheitert eine Verhandlungsrunde in Brüssel. EU-Kommissionpräsident Juncker kritisiert die Briten. Sie wollen über Handel und zukünftige Beziehungen sprechen und veröffentlichen Positionspapiere ohne klaren Inhalt. Juncker besteht darauf, dass erst der Austritt ordentlich geregelt werden muss - wie ursprünglich vereinbart.
Bild: imago/D.Shamkin
Juli 2017: Ernsthafte Verhandlungen?
Der britische Brexitminister David Davis (re.) hat alles im Kopf und braucht in der zweiten Verhandlungsrunde keine Unterlagen. Oder? Kommt der Brite etwa völlig unvorbereitet nach Brüssel? EU-Chefunterhändler Michel Barnier (li.) fühlt sich veräppelt.
Bild: Getty Images/T.Charlier
Juni 2017: Lächelnd an den Start
Am 19. Juni reist der britische Brexit-Verhandlder, David Davis (li.), zum ersten Mal nach Brüssel. Dort trifft er den ehemaligen französischen EU-Kommissar Michel Barnier, der von den übrigen 27 EU-Staaten ein ausführliches Verhandlungsmandat erhalten hat. Die Herren einigen sich auf Zeitplan und Verhandlungsphasen: Erst der Austritt, dann die neuen Beziehungen.
Bild: picture alliance/ZUMAPRESS.com/W. Daboski
März 2017: Die Uhr tickt
Der britische EU-Botschafter Tim Barrow (li.) überreicht am 29. März in Brüssel den Brief mit dem Austrittsgesuch nach Artikel 50 des EU-Vertrages an Ratspräsident Donald Tusk. Die zwei Jahre währende Frist bis zum britischen Exit läuft. "Wir vermissen Euch schon jetzt", sagt Donald Tusk.
Bild: picture alliance / Photoshot
Juli 2016: Knicksen und regieren
Innenministerin Theresa May, die eigentlich für den Verbleib in der EU war, wird Regierungschefin. Sie stellt sich der Queen vor, die sie hier einlädt, ihre Premierministerin zu sein. May lässt viel Zeit verstreichen, bevor sie das eigentliche Austrittsgesuch stellt.
Bild: Reuters/D. Lipinski
Juni 2016: Wir sind raus
Die Briten stimmen in einer Volksabstimmung mit knapp 52 Prozent für den Brexit. Premierminister David Cameron tritt zurück. Die lange Reise hinaus aus der EU beginnt. Die Befürworter wollen die "Kontrolle" für Großbritannien zurück. Die Gegner des Brexit ahnen schlimmes Chaos voraus.
Bild: picture-alliance/dpa/A. Rain
20 Bilder1 | 20
"Politisch komplett irrelevant"
Während Cameron auf seinen Memoiren sitzt, tut er, was man eben als früherer Regierungschef so tut: Reden halten, sich ehrenamtlich engagieren, etwa beim National Citizen Service, einem Entwicklungsprogramm für Jugendliche, das 2010 als Teil von Camerons "Big Society"-Initiative ins Leben gerufen wurde. Cameron hat zudem eine Führungsrolle bei einem umgerechnet 866 Millionen Euro schweren britisch-chinesischen Investmentfonds inne, mit dem Straßen, Häfen und Eisenbahnnetze zwischen China und seinen Handelspartnern ausgebaut werden sollen. Diese Tätigkeit Camerons könnte der derzeitigen Premierministerin Theresa May zugute kommen, die sich damit abmüht, Handelsabkommen für die Zeit nach dem Brexit einzutüten.
Wo wir gerade bei May sind: Gab es eigentlich jemals tiefgehendere Gespräche zwischen ihr und ihrem Vorgänger? "Ich glaube nicht, dass sie ernsthaft miteinander über den Brexit oder die daraus resultierende Strategie der Regierung gesprochen haben. Das Verhältnis zwischen May und Cameron war von 2010 bis 2016, als sie noch Innenministerin war, recht frostig", so Theakston, "Darüber, dass Cameron nun politisch komplett irrelevant ist, dürfte Theresa May nicht unfroh sein."
Während die Eiszeit zwischen May und Cameron andauert, scheint der ehemalige Premier mit einem anderen seiner Erzfeinde wieder zu reden: Boris Johnson, mit dem er damals sehr öffentlich über den Brexit gestritten hatte. Sie wurden bei einem gemeinsamen Abendessen gesehen und haben sich auch vor dem Chequers-Gipfel im Juli zu Gesprächen getroffen - bei letzterem präsentierte May ihren Ministern ihr neues umstrittenes Konzept unter anderem im Bereich der Zölle. Einer anonymen Quelle zufolge sollen sich Johnson und Cameron einig gewesen sein, dass Mays Pläne "die schlimmsten aller Zeiten" seien.
Das muss jedoch nicht heißen, dass sie im Geheimen Mays Sturz planen, wie Theakston erklärt: "Wenn Cameron und Johnson zusammen Tennis spielen oder was auch immer, sehe ich darin noch kein politisches Bündnis. Johnson könnte sich das selbst zwar einreden, aber ich denke nicht, dass Cameron darin mehr als einen sozialen Kontakt sieht."
Vielleicht zur NATO?
Nach allem, was man hört, ist David Cameron ernsthaft unterbeschäftigt. Das belastet ihn bestimmt, er selbst sagte letztens, er habe noch "eine große Aufgabe" vor sich. Was das sein soll? Keine Ahnung.
"Schwer zu sagen, was Cameron damit meint", findet auch Theakston. "Es gab die Spekulation, dass es um eine Tätigkeit als Generalsekretär bei der NATO gehen könnte. Aber Cameron wäre für die anderen europäischen Kräfte wohl kaum tragbar. Warum sollten sie in einer solchen Position ausgerechnet die Person akzeptieren, die für das derzeitige Chaos in den britisch-europäischen Beziehungen verantwortlich ist?"
Das Vermächtnis des Brexit-Architekten ist für Cameron ein Klotz am Bein. Alle paar Jahre führt Theakston eine Umfrage unter Wissenschaftlern durch. Er lässt sie ehemalige Premierminister des Vereinten Königreichs auf einer Skala von 0 (schrecklich) bis 10 (sehr gut) bewerten.
"In der Erhebung direkt nach dem Brexit-Referendum und Camerons Rücktritt kürten ihn die hundert teilnehmenden Wissenschaftler zum drittschlechtesten Premierminister nach 1945 - damit schneidet er sogar schlechter ab als sein Vorgänger Gordon Brown", erläutert Theakston. "Und als Grund für die schlechte Bewertung Camerons nannten die Umfrageteilnehmer fast ausnahmslos das Brexit-Desaster und seine Folgen."