Was man über den Skandal im deutschen Turnen wissen muss
2. Januar 2025Wie lauten die konkreten Vorwürfe der Turnerinnen?
Die frühere Topturnerin Tabea Alt prangerte in einem Instagram-Post am 28. Dezember Missstände am Bundesstützpunkt Stuttgart und "im deutschen Frauenturnen im Allgemeinen" an. Man habe sie in Stuttgart sogar mit Knochenbrüchen turnen und bei Wettkämpfen antreten lassen, schrieb die 24-Jährige: "Es ist kein Einzelfall: Essstörungen, Straftraining, Schmerzmittel, Drohungen und Demütigungen waren an der Tagesordnung. Heute weiß ich, es war systematischer körperlicher und mentaler Missbrauch." Sie habe bereits vor drei Jahren in einem Brief an die Verantwortlichen des Deutschen Turner-Bunds (DTB) auf die Missstände hingewiesen, geschehen sei jedoch nichts. Alt gewann bei der WM 2017 in Montreal in Kanada Bronze am Schwebebalken, 2021 beendete sie ihre Karriere.
Weitere Turnerinnen schlossen sich der Kritik Alts an. So beschrieb die frühere Nationalturnerin Michelle Timm auf Instagram "katastrophale Umstände" am Bundesstützpunkt Stuttgart. Von Trainern habe es "Drohungen in jeglichen Kontexten" gegeben. Sie habe "monatelang aufgrund von ärztlichen Fehlentscheidungen mit sichtbaren körperlichen Schäden trainiert", was letztlich zu Ermüdungsbrüchen und ihrem vorzeitigen Karriereende geführt habe, so Timm.
Mit Lara Hinsberger meldete sich auch eine noch aktive Turnerin zu Wort. Sie beklagte den psychischen Druck, der auf sie bereits als Minderjährige am Bundesstützpunkt ausgeübt worden sei. Sie sei "auf Grund rücksichtsloser Erwachsener im Alter von 14 Jahren mutwillig gebrochen" worden, schrieb die 20-Jährige auf Instagram. "In Stuttgart wurde ich behandelt wie ein Gegenstand. Ich wurde benutzt und das so lange, bis ich körperlich und geistig so kaputt war, dass ich für die Trainer (und irgendwann auch für mich selbst) sämtlichen Wert verlor."
Wie reagiert der Deutsche Turner-Bund auf die Vorwürfe?
Der Turnverband bestreitet, dass Tabea Alts Schreiben vor drei Jahren folgenlos geblieben sei. Man habe damals reagiert und in Stuttgart unter anderem Workshops mit Sportpsychologinnen und -psychologen gemacht. Angesichts der aktuellen Vorwürfe müssten allerdings "selbstkritisch die Sinnhaftigkeit und der Erfolg der bislang eingeleiteten Maßnahmen grundsätzlich auf den Prüfstand gestellt werden", räumt der DTB in einer Stellungnahme ein. Für den Verband gelte "weiterhin die Maxime, dass wir einen humanen Leistungssport anstreben und die Leistungserbringung nicht die persönliche Entwicklung negativ beeinträchtigten darf."
Zwei Trainer des Bundesstützpunktes wurden vorläufig bis zum 19. Januar freigestellt.
Wie ist das Echo im Turnsport?
"Ich stehe auf der Seite aller Athletinnen, die den Mut hatten, mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit zu gehen", schrieb Elisabeth Seitz, dreimalige Olympiastarterin und frühere Europameisterin am Stufenbarren, auf Instagram. Die Missstände müssten behoben "und die Menschen zur Verantwortung gezogen werden, die diese verursachen", so die derzeit bekannteste deutsche Geräteturnerin.
Die frühere deutsche Spitzenturnerin Kim Bui, inzwischen Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees, beklagte in einem Interview des Magazins "Stern" ein System, das Sportlerinnen über Jahre "manipuliert, erniedrigt und kaputt gemacht" habe: "Es betrifft den gesamten Turnsport in Deutschland." Viele Verantwortliche für die Missstände hätten sich gegenseitig geschützt, sagte Bui.
Athleten Deutschland, eine seit 2017 bestehende unabhängige Interessenvertretung von Sportlerinnen und Sportlern in Bundeskadern, forderte, der Skandal müsse "jetzt zügig aufgeklärt und aufgearbeitet werden - auch um fortwährendes Fehlverhalten und damit potenziell andauerndes Leid weiterer Athletinnen zu verhindern." Man sei zuversichtlich, dass dies auch geschehen werde, da sich der DTB "in den vergangenen Jahren zu einem Vorreiter für sicheren und gewaltfreien Sport in der deutschen Verbandslandschaft" entwickelt habe.
Sind Vorwürfe gegen Trainerinnen und Trainer im deutschen Turnen neu?
Nein. Bereits 2020 erhoben unter anderen Sportlerinnen am Bundesstützpunkt Chemnitz schwere Vorwürfe gegen ihre damalige Trainerin Gabriele Frehse. Sie habe die Turnerinnen im Training schikaniert und ihnen Medikamente ohne ärztliche Verordnung verabreicht, so die Athletinnen. Frehse bestritt die Vorwürfe. Der DTB trennte sich von ihr. Frehse gewann einen Rechtsstreit um ihre Kündigung und arbeitet seit 2023 als Nationaltrainerin der österreichischen Turnerinnen.
Gibt es vergleichbare Skandale im internationalen Turnsport?
In den vergangenen Jahren wurde in einigen Ländern über körperlichen und seelischen Missbrauch im Turnen berichtet, etwa 2020 in den Niederlanden oder 2023 in Frankreich und der Schweiz. Den bislang größten Skandal im Turnsport gab es in den USA: Wegen sexuellen Missbrauchs von mehr als 250 Mädchen und Frauen, darunter auch Olympiasiegerinnen wie Superstar Simone Biles, wurde der langjährige Mannschaftsarzt Larry Nassar im Jahr 2017 lebenslang hinter Gitter geschickt. Nach Angaben des U.S. Center for Safe Sport sind aktuell fast 300 Trainer oder Trainerinnen im US-Turnsport wegen Fehlverhalten ausgeschlossen oder suspendiert.
Welche Rolle spielt das Turnen im deutschen Sport?
Deutschland gilt als Wiege des organisierten Turnsports. In Thüringen und Berlin wurden Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts die weltweit ersten öffentlichen Turnplätze mit Geräten angelegt. Die Hamburger Turnerschaft von 1818 gilt als ältester Turnverein der Welt.
Turnen ist in Deutschland weiterhin sehr populär. Mit rund fünf Millionen Mitgliedern ist der DTB nach dem Deutschen Fußball-Bund (7,7 Millionen) der zweitgrößte Sportverband Deutschlands. Er betreut nicht nur das Geräteturnen, sondern auch die Rhythmische Sportgymnastik, Trampolinspringen und einige kleinere Sportarten wie Parcour, Orientierungslauf oder Faustball.
Letzter deutscher Olympiasieger im Geräteturnen war 2016 in Rio de Janeiro Fabian Hambüchen am Reck. Bei den Spielen 2024 in Paris gewann Darja Varfolomeev erstmals olympisches Gold für Deutschland in der Rhythmischen Sportgymnastik.
Was ist ein Bundesstützpunkt?
Nach Angaben des Bundesinnenministeriums gibt es 193 Bundesstützpunkte in olympischen Sportarten und weitere zwölf im Parasport. Sie sollen sicherstellen, dass deutsche Spitzenathletinnen und -athleten optimale Bedingungen für das regelmäßige Training, leistungsstarke Trainingsgruppen und hochqualifizierte Trainerinnen und Trainer haben. Die Stützpunkte werden in der Regel für vier Jahre - einen Olympiazyklus - anerkannt. Dafür zuständig sind die Bundesregierung, das betreffende Bundesland sowie der Deutsche Olympische Sportbund, die Dachorganisation des deutschen Sports.
In den olympischen Turn-Sportarten Geräteturnen, Rhythmische Sportgymnastik und Trampolinspringen gibt es zwölf Bundesstützpunkte. Einer davon ist das nun in die Schlagzeilen geratene Kunst-Turn-Forum Stuttgart.
Jeder Bundesstützpunkt ist an einen der 13 deutschen Olympiastützpunkte angebunden. Dort werden die besten Aktiven gezielt auf Olympische oder Paralympische Spiele vorbereitet. Finanziert wird das Stützpunktsystem von der Bundesregierung, den Bundesländern, den Kommunen, den Sportverbänden und Sponsoren aus der Wirtschaft.
Der Artikel wurde am 3. Januar aktualisiert.