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Politik

Was Opfer der russischen Besatzung berichten

24. September 2022

Anfang September führte die ukrainische Armee eine erfolgreiche Gegenoffensive in der Region Charkiw durch. Bewohner von Balaklija haben der DW erzählt, was sie unter der russischen Besatzung ertragen mussten.

Ukraine Balakliia | Polizeistation Keller Untersuchung
Im Keller der Polizeistation von BalaklijaBild: Gleb Garanich/REUTERS

Folter von Zivilisten, Denunziationen von Nachbarn und Nötigung zur Kollaboration sind nur ein Teil dessen, was die Menschen ein halbes Jahr lang in der Region Charkiw unter russischer Besatzung erlebt haben. Alles erinnerte sie an die Zeit unter dem sowjetischen Diktator Stalin. Zwei Frauen haben der DW ihre Geschichte erzählt.

Marina aus Balaklija verbrachte neun Tage in russischer Gefangenschaft:

Die Stadt Balaklija wurde schnell eingenommen. Mein Mann und ich waren schon immer pro-ukrainisch, aber wir wollten bleiben, weil mein Vater nach zwei Schlaganfällen gelähmt ist. Viele Einheimische begrüßten die Russen und wollten sogar mit ihnen kooperieren. Es gab viele Denunziationen. Verraten wurden pro-ukrainische Bürger und Männer, die auf ukrainischer Seite im Donbass gekämpft haben. Es war eine Atmosphäre wie in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts.

Nach jeder Rotation bei den Russen gab es Plünderungen. Es kam auch vor, dass mitten auf der Straße Menschen ihre Autos weggenommen wurden. Unseren Nachbarn wurden ein Motorrad und ein Quad gestohlen.

Ein beschädigtes Geschäft in BalaklijaBild: Kyodo/picture alliance

Die Russen gingen oft durch die Häuser und überprüften Handys. Dabei wurde meine Freundin wegen eines Videos mitgenommen, auf dem ein Konvoi russischer Fahrzeuge zu sehen war. Fast jeder hatte so ein Video, denn als die Russen in die Stadt kamen, wurde das gefilmt. Am nächsten Tag wollte ihr Mann sie befreien, aber selbst er wurde geschlagen, weil sie in seinem Telefon einen Schriftverkehr fanden, in dem er das russische Militär beschimpfte. Es war gefährlich, mit einem Handy herumzulaufen.

Als es im Juli unerträglich wurde, unter der Besatzung zu leben, beschlossen mein Mann und ich, über Russland zu fliehen. Wir informierten alle über unsere Abreise. Als wir auf einer Bank saßen und uns mit Nachbarn unterhielten, kam eine Gruppe von sechs oder sieben maskierten Personen mit Sturmgewehren. Sie durchsuchten jede Schublade, nahmen einen Computer, einen Laptop, Telefone und Dokumente mit. Wir wurden zur Polizeiwache gebracht. Dort wurden uns Säcke über den Kopf gestülpt und wir kamen in verschiedene Zellen.

In meiner Zelle saßen zwei junge Frauen, etwa meines Alters sowie eine ältere Frau. Später waren wir in dem zwei mal zwei Meter großen Raum acht Personen, darunter eine 70-jährige Frau. Die Matratzen stanken, es gab nur ein Waschbecken und eine Toilette. Es gab weder eine Lampe noch eine Uhr.

Die Zelle für Frauen in der Polizeistation von BalaklijaBild: Vyacheslav Madiyevskyy/Avalon/Photoshot/picture alliance

Bewacht wurden wir von Soldaten der sogenannten "Volksrepublik Luhansk", die uns sagten, dass sie überhaupt nicht hier sein wollten. Sie gaben uns Tee und Kekse. Essen gab es dreimal am Tag - einen Brei mit Dosenfleisch. Am ersten Tag habe ich nichts gegessen, dann musste ich mich dazu zwingen, weil der Reis schon schimmelig war. Als eines Nachts eine ältere Frau über Herzprobleme klagte, dachten wir an einen Herzinfarkt, aber die Wachen reagierten nicht auf unser Klopfen. Erst am Morgen riefen sie einen Krankenwagen.

Einige der Frauen wurden direkt von der Straße geholt und beschuldigt, für die ukrainische Armee zu arbeiten. Sie sagten, sie seien bei den Verhören mit Elektroschocks gefoltert worden. Sie hätten sich zudem ausziehen müssen, weil sie auf Tattoos überprüft wurden.

Mein Mann sagt, dass Männer noch schlimmer behandelt worden seien. Ihm zufolge wurden sie aus den Verhören herausgetragen, weil sie wegen erlittener Verletzungen nicht mehr gehen konnten. Die Zelle für die Männer war noch kleiner, ohne Lichtquelle und mit einer kaputten Toilette. Sie wurden ein- oder zweimal am Tag mit Säcken über dem Kopf zur Toilette geführt. Essen bekamen sie nur zweimal am Tag.

Ich wurde erst am siebten Tag verhört. Zwei maskierte Männer begannen, sofort mich einzuschüchtern und psychisch unter Druck zu setzen. Sie fragten, wie ich zur ukrainischen Armee stehe. Da ich nicht reagierte, weil ich sie zunächst nicht verstanden hatte, fingen sie an, mich mit Elektroschocks zu foltern, zuerst an den Beinen, dann mit noch mehr Spannung an meinen bloßen Händen. Ich musste knien und mir wurden die Arme verrenkt.

Sie fragten, wer in unserem Haus für die ukrainische Armee arbeiten würde. Ich war über 15 Jahre lang als Pädagogin tätig und leitete eine Theatergruppe für Kinder. Daher fragten sie mich viel über meine Arbeit und mein Gehalt aus. Sie warfen mir vor, eine pro-ukrainische Lehrerin zu sein. Danach stülpten sie mir wieder einen Sack über den Kopf und brachten mich zurück in die Zelle.

Kellerraum der Polizeistation in Balaklija, in dem Menschen gefoltert wurdenBild: Kyodo/picture alliance

Zwei Tage später kam ein Wachmann zu uns und forderte mich auf, herauszukommen. Erst am Vortag, mitten in der Nacht, wurde eine junge Frau schwer ins Gesicht geschlagen und mit Elektroschocks gefoltert. Ihr wurde mit erhobenem Dolch gedroht, die Finger abzuhacken. Ich dachte, dies erwarte auch mich. Aber mein Mann und ich bekamen alle unsere Sachen zurück und wurden entlassen. Wie sich herausstellte, hatte uns meine Schwester mit Gold freigekauft.

Ich weiß nicht, ob unsere Festnahme damit zusammenhing, dass ich mich geweigert hatte, unter den Besatzern im Kulturzentrum zu arbeiten, aber ich konnte nicht anders. Was hätte ich den Kindern sagen sollen? Dass sie die Ukraine nicht mehr lieben sollten, sondern einen anderen Staat? Mein Mann wurde hingegen nicht verhört.

Zu Hause hatten wir Angst, laut zu sprechen, weil wir befürchteten, wir könnten abgehört werden. Ich traute mich lange nicht, über Russland zu flüchten, ich hatte panische Angst davor. Doch zwei Wochen nach unserer Freilassung sind wir weggefahren, ohne es unseren Angehörigen zu sagen, aus Angst, die Situation könnte sich wiederholen. Jetzt sind wir seit einem Monat in Irland und ich kann mich immer noch nicht von dem erholen, was ich erlebt habe. Seitdem habe ich Herzprobleme und bin ergraut. Während der Besatzung habe ich zehn Kilogramm an Gewicht verloren.

Ljudmila verließ Balaklija Anfang Juli:

Als die Russen in die Stadt kamen, hatten alle Angst, ihre Häuser zu verlassen, weil man nicht wusste, was einen erwartet. Und auf der Straße hatten die Menschen Angst, ihre Meinung zu äußern. Es gab aber viele, die Russland unterstützten und glaubten, dass die Russen nun für immer gekommen seien. Oft habe ich gehört, dass Leute sagten, wenn die Russen schon da seien, dann sollten sie doch bleiben, mit ihrem Gas und ihren Lebensmitteln. Die meisten Menschen, die in der Stadt geblieben waren, waren Rentner oder Arbeitslose. Es gab aber auch solche, die auf die Ukraine warteten und die russischen Soldaten dafür hassten, dass sie in unser Land gekommen sind.

Als die Invasion begann, bin ich mit meiner 18-jährigen Tochter und meinem Mann zu Freunden gefahren, die ein Haus besitzen. Die ersten anderthalb Monate mussten wir immer wieder im Keller Schutz suchen. Wir ernährten uns von Vorräten an Müsli und Nudeln. Brot backten wir selbst. Wir hatten Angst zu fliehen, weil die Route nach Charkiw ständig unter Beschuss stand.

Verteilung der humanitären Hilfe in Balaklija nach der RückeroberungBild: Oleksandra Indiukhova/DW

Als wir zum ersten Mal in die Stadt gingen, war ich erstaunt, wie viele Häuser verlassen waren. Es war ein Anblick wie in Tschernobyl. Zerbrochene Fenster mit Vorhängen, die im Wind wehen. Wie eine ausgestorbene, völlig menschenleere Stadt. Später sah ich sogar Kinder, die für humanitäre Hilfe in Schlangen anstanden.

Die Geschäfte waren zunächst geschlossen. Später wurden Waren aus Kupjansk herangeschafft, die aus Russland oder der sogenannten "Volksrepublik Luhansk" kamen. Die Preise stiegen um das Zwei- bis Dreifache. Einmal im Monat gab es humanitäre Hilfe. Dafür musste man aber zuerst seine persönlichen Daten angeben und dann bekam man Lebensmittel gemäß einer Liste.

Anträge auf eine russische Rente stellten hauptsächlich Menschen, die der Russischen Föderation glaubten, oder Ältere, die ihre Rente per Post bezogen und keine andere Wahl hatten. Aber russische Renten wurden nicht gezahlt. Erst im August wurden einmalig 10.000 Rubel (ca. 175 Euro - Anm. der Red.) an Behinderte und Rentner gezahlt. Als ich in der Stadt unterwegs war, sah ich, dass nur die ukrainische Hrywnja im Umlauf war, dass sogar russische Militärs mit ihr zahlten. Das war schon seltsam.

In Apotheken und Krankenhäusern gab es keine speziellen Arzneimittel. Der Mangel an Medikamenten war einer der Gründe, warum wir nach Saporischschja geflohen sind. Denn ich muss Hormonpräparate einnehmen, die nicht mehr verfügbar waren. Jetzt wollen wir wieder nach Hause, aber ich mache mir große Sorgen, dass die Russen wieder eine Offensive starten. Ich will nicht, dass sie wieder zurückkommen.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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