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Was steckt tatsächlich hinter dem Wunsch von 2000 Tschetschenen, nach Kasachstan umzusiedeln?

14. November 2002

– Ist es Angst vor Blutrache oder doch die dramatische Lage in den Flüchtlingslagern in Inguschetien?

Moskau, 14.11.2002, INTERFAX, NOWAJA GASETA, NESAWISSIMAJA GASETA, ISWESTIJA

INTERFAX, russ., 14.11.2002

Die Zwangsumsiedler aus Tschetschenien, die sich an den Präsidenten Kasachstans mit der Bitte gewandt haben, sie in diesem Land aufzunehmen, verstecken sich vor Blutrache. Diese Meinung äußerte der Vertreter der Administration der Tschetschenischen Republik, Achmar Sawgajew, am Donnerstag (14.11.) bei einer Pressekonferenz in Moskau.

"Eine große Zahl von Familien, deren Mitglieder Verbrechen in Tschetschenien begangen haben, verlassen jetzt die Republik oder haben Angst, dorthin zurückzukehren. Sie haben Angst vor der Vergeltung", sagte Achmar Sawgajew.

Eben damit erklärte er die Tatsache, dass 300 Familien von Zwangsumsiedlern bereit sind, nach Kasachstan umzusiedeln und nicht nach Tschetschenien.

Achmar Sawgajew unterstrich, dass Tschetschenien heute bereit sei, auf seinem Territorium Zwangsumsiedler aus Inguschetien aufzunehmen. "Notunterkünfte sind für diese schon bereit", unterstrich er. Auf die Meldungen darüber eingehend, dass in den Notunterkünften die notwendigen Bedingungen für die Leute nicht geschaffen wurden, sagte Achmar Sawgajew: "Heute gibt es in jedem Lager ein ideologisches Netz von Maschadow. Dort leben Familien der Kämpfer, die versuchen, die Situation um die Zwangsumsiedler aufzubauschen", so der Vertreter der tschetschenischen Administration. (...)

Achmar Sawgajew unterstrich, dass sich in Tschetschenien derzeit die Tendenz zum wirtschaftlichen Aufschwung bemerkbar mache. So seien in den Haushalt der Republik in diesem Jahr zwei Milliarden Dollar an Steuern geflossen. Außerdem sei die Getreideernte im Jahr 2002 gut wie nie gewesen. "Wiederhergestellt wurden alle Schulen, Krankenhäuser und Hochschulen", sagte Achmar Sawgajew. Ihm zufolge leben derzeit in Tschetschenien über 220 000 Schüler der Mittelschulen und über 18 000 Studenten. Offiziell zähle die Republik 150 000 Arbeitslose. In der Republik seien unterdessen bereits Arbeitsplätze für 120 000 Personen geschaffen worden. (lr)

NOWAJA GASETA, russ., 14.11.2002, Orchan Dschemal

(...) Diese Leute sind vor den Schrecken des Krieges nach Inguschetien geflohen. In den letzten sieben Jahren insgesamt 150 000 Personen. Die russischen Machtorgane haben mehrmals versucht, sie nach Tschetschenien zurückzubringen. Erst durch Überredung, dann mit härteren Maßnahmen (die Verteilung von Lebensmitteln und Brennstoff wurde zeitweilig eingestellt, es wurde keine medizinische Hilfe geleistet, die Kinder wurden nicht unterrichtet). In Tschetschenien fühlt sich jedoch niemand sicher. Die größte Gefahr besteht nach Behauptung der Flüchtlinge jedoch in den außergerichtlichen, unbegründeten Abrechnungen mit der Zivilbevölkerung.

Der letzte, der Mai-Plan für die Rückkehr der Flüchtlinge in die Republik ist, wie auch die vorausgegangenen, gescheitert. (...) Inguschetien verwandelt sich den Flüchtlingen zufolge ebenfalls in eine Zone von Kampfhandlungen.

Für Kasachstan kam die Bitte der Tschetschenen aus Russland ganz unerwartet. Die Organe für Inneres Kasachstans haben die Bewachung der Grenze in den Rayons, die an Russland grenzen, verstärkt, weil sie befürchten, dass mehrere Personen versuchen könnten, nach Kasachstan vorzudringen. Der Leiter der Abteilung Inneres des Gebietes Tscheljabinsk, Russische Föderation, Pawel Grigorjew, erklärte jedoch: "Vorläufig haben wir weder auf der kasachischen noch auf der russischen Seite große Gruppen von Tschetschenen beobachtet. Wir beobachten die Grenze jedoch sehr, sehr aufmerksam." (...)

Zum ersten Mal wollen Einwohner Russlands gen Osten auswandern, noch dazu in ein Land, in das vor 60 Jahren ihre Vorfahren deportiert wurden. (lr)

NESAWISSIMAJA GASETA, russ., 14.11.2002, I. Maksakow, W. Panfilowa

(...) Es ist offensichtlich, dass das Problem der tschetschenischen Flüchtlinge ein Bestandteil der gesamten Krise im Nordkaukasus ist. Die widersprüchlichen Angaben über ihre Zahl, die sich wiederholenden Drohungen, sie fast schon gewaltsam nach Tschetschenien zurückzubringen, usw. lassen dieses Thema immer aktuell sein. In diesem Zusammenhang erklärte der Sondervertreter des Präsidenten der Russischen Föderation für Menschenrechte in Tschetschenien Abdul-Hakim Sultygow gegenüber der "Nesawissimaja gaseta", dass mit dem sogenannten Appell der Flüchtlinge Druck auf Russland ausgeübt werden soll. (....)

Sultygow zufolge war die Situation der Flüchtlinge in den Jahren 2000 und 2001 tatsächlich dramatisch. Jetzt würden diese jedoch mit riesigen Mitteln internationaler humanitärer Organisationen unterstützt. (...) Ungeachtet dessen könnten die Leute selbst entscheiden, wohin sie umsiedeln wollten. Nach Ansicht des Sondervertreters ist Nasarbajew ein erfahrener und kluger Politiker, der einen echten Appell von einer Provokation unterscheiden kann. (...)

Dosym Satpajew, Mitarbeiter der Zentralasiatischen Agentur für politische Forschungen, erklärte gegenüber der "Nesawissimaja gaseta", dass Kasachstan traditionell ein offener Staat sei. Er erinnerte daran, dass hier seit langem eine tschetschenische Diaspora lebt und dass in Kasachstan nie Aggressionen gegenüber Tschetschenen zu beobachten waren. Deshalb schloss Satpajew antitschetschenische Stimmungen wegen des Appells der Flüchtlinge in Kasachstan aus.

Der kasachische Politologe ist der Ansicht, dass Astana aller Wahrscheinlichkeit nach versuchen wird, sein Vorgehen mit Moskau abzustimmen, um den Standpunkt Russlands selbst zu verstehen. (...) Wichtig ist natürlich auch die Frage, ob Kasachstan selbst bereit ist, Tschetschenen aufzunehmen, besonders unter Berücksichtigung der Tatsache, dass unter den Opfern des Terroranschlags in Moskau auch Bürger Kasachstans waren. Astana hat bereits Besorgnis darüber geäußert, dass eine große Zahl von tschetschenischen Flüchtlingen ins Land strömen könnte. Das könnte nach Meinung von Satpajew zu einer Gefahr für die nationale Sicherheit des Landes werden. Und deshalb würden die Erklärungen von einst darüber, dass Kasachstan eine offene Republik sei, kaum in die Praxis umgesetzt werden. (...) (lr)

ISWESTIJA, russ., 14.11.2002, Jelena Lorija

(...) "Ich weiß nicht, welchen Beschluss Präsident Nasarbajew fassen wird, aber die Möglichkeit, eine so große Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen, haben wir ganz einfach nicht", erklärte der Chef der Agentur für Migration und Demographie Kasachstans, Altynschasch Schaganow. "(...) Es ist aber so, dass es ein Abkommen zwischen Russland und Kasachstan gibt, dem zufolge alle Bürger Russlands ohne große Probleme die Staatsbürgerschaft Kasachstans erwerben können - nicht jedoch den Flüchtlingsstatus." (...) (lr)