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Was TikToker und TV-Talker vom Philosophen lernen können

5. März 2024

Wen interessiert schon Thomas von Aquin? 750 Jahre nach dem Tod des großen christlichen Philosophen versucht sich der Direktor des Kölner Thomas-Instituts, Andreas Speer, an einer Aktualisierung.

Thomas von Aquin
Thomas von Aquin (1225-1274)Bild: Artokoloro/IMAGO

Am 7. März 1274 starb Thomas von Aquin. Er wurde 49 Jahre alt. Thomas war einer der wichtigsten Denker des Mittelalters. Er lernte in Neapel und Bologna, lernte und lehrte in Paris und Köln, in Rom und Neapel. Der Philosoph studierte einst bei Albertus Magnus am Generalstudium der Dominikaner in Köln, das als Vorläufer der mehr als ein Jahrhundert später gegründeten Universität Köln gilt.

Welche Bedeutung hat dieser Ordensmann für die heutige Welt? Ein DW-Gespräch mit dem Direktor des Thomas-Instituts der Universität Köln, dem Philosophen Andreas Speer.

Deutsche Welle: Herr Professor Speer, Sie sind einer der führenden Thomas-von-Aquin-Experten. Wer war dieser Gelehrte?

Andreas Speer: Thomas hat eigentlich zwei Rollen ausgefüllt. Zum einen trat er in seinem Orden, dem Dominikanerorden, für eine Rückbesinnung auf eine radikal-christliche Lebensform ein. Diese Reformbewegung wollte die sogenannten evangelischen Räte - Armut, Keuschheit, Gehorsam - wieder radikal leben, vor allem die Besitzlosigkeit.

Zum anderen - das war sein zweiter Reformgedanke - prägte er das entstehende Bild des Universitätslehrers – heute würde man sagen des Professors. Er war der erste Professor seines Ordens an der Universität von Paris, die damals erst einige Jahrzehnte alt war. Der bekannte französische Historiker Jacques LeGoff hat vom Entstehen einer neuen soziologischen Klasse gesprochen: den Intellektuellen, die sich durch ihr konsequentes Reflektieren auszeichneten. Zu dieser Gruppe muss man sicher Thomas zählen. In beiden Punkten prägte er also innovative Bewegungen der damaligen Gesellschaft mit.

DW: Und heute, 750 Jahre nach seinem Tod? Wer ist Thomas von Aquin für die Gegenwart?

Andreas Speer, Professor für Philosophie an der Universität KölnBild: Andreas Speer/Universität Köln

Speer: Er ist einer der großen Klassiker. Denn er ist nach wie vor ein interessanter Gesprächspartner. Er mag nicht so präsent sein wie Immanuel Kant. Aber Thomas trägt wesentlich dazu bei, dass es so etwas wie christliche Intellektualität gibt. Und wenn wir diese Epoche nehmen, die wir recht unpassend Mittelalter nennen, so ist er sicherlich derjenige, den man aus diesem spannenden Jahrtausend wirklich namentlich kennt.

DW: Die heutige jüngere Generation denkt gern in der Länge von Tweets oder der Sprache von TikTok. Was kann für junge Leute der besondere Kick von Thomas sein?

Speer: Kurz gesagt: formuliere präzise, trau dich zu denken! Und: erst denken, dann reden! Bevor man eigene Auffassung formuliert, sollte man schauen, was es an Argumenten gibt. Thomas hat den damaligen Diskussionsstil in der Art, wie er seine Argumente präzisiert, perfektioniert. Oft formuliert er anspruchsvoll und intelligent und doch zupackend und in einem sehr kurzen Format, quasi auf TikTok-Länge.

DW: Sie sprechen fast schwärmend von der Qualität damaliger Debatten. Heute dominieren, egal ob in politischen Debatten oder bei den Medien, platte Schlagworte und kurzatmige Oberflächlichkeit. Was würde ein Thomas dazu sagen?

Speer: Er würde genau das als Problem diagnostizieren. Und er würde Denkdisziplin anmahnen. Über die Art heutiger Auseinandersetzung wäre Thomas gewiss ziemlich unglücklich. Er lehrt wieder und wieder, vernünftig und präzise zu formulieren. Man sollte sich zudem vor einer Antwort zunächst informieren. Dazu zählt auch, Meinungen, denen man kritisch gegenübersteht, einen Kredit einräumen und sie zu verstehen suchen.

DW: Das passt nicht zu Talkformaten der heutigen Medienwelt.

Speer: Gewiss. Thomas will im Denken anspruchsvoll sein. Er führt das vorbildlich im damaligen akademischen Kontext bei der Klärung oftmals sehr kontroverser Fragen vor. Das heißt auch, stets die Grenzen der eigenen Antwort mitzudenken und zu begreifen, kein Wissen von einem absoluten Standpunkt aus zu formulieren.

 

DW: Aber kann man im Stile des Thomas diese nachdenkliche Debatte bewahren bei großen Themen der Gegenwart - wie Klimawandel oder Künstlicher Intelligenz?

Speer: Bei derartigen Themen wäre Thomas ein exzellenter Gesprächspartner. Um ein Beispiel herauszunehmen: Die KI-Debatte ist gar nicht so weit entfernt von der Frage zur Zeit des Thomas, was der menschliche Intellekt ist, was Intelligenz ist. Er warb dafür, Intelligenz nicht auf die menschliche Vernunft zu begrenzen. Heute wird KI oftmals dämonisiert. Thomas hätte kein Problem mit einer Intelligenz, die mächtiger als die menschliche Intelligenz ist. Auch bei diesem Thema gilt: Thomas würde versuchen, sich vor Entscheidungen bestmöglich zu informieren.

DW: Das ist in Zeiten von FakeNews schwieriger geworden.

FakeNews: "Da wäre Thomas ungemein kritisch" Bild: S. Ziese/blickwinkel/picture alliance

Speer: Was FakeNews angeht, wäre Thomas ungemein kritisch. Für ihn ist vollkommen klar, dass unser Wissen und Erkennen auf Wahrheit hin ausgerichtet sind. Wer vorsätzlich lügt und falsche Meinungen verbreitet, widerspricht im Grunde der menschlichen Vernunft. Denn damit träte die Vernunft mit sich selbst in einen Widerspruch. Für ihn ist das eines der schlimmsten Vergehen, das ein Mensch begehen kann. Denn die Vernunft macht das Wesen des Menschen und somit den Kern der Humanität aus. FakeNews richten sich bewusst gegen diesem Kern. Thomas würde das zutiefst verurteilen, und er würde heute entschieden gegen FakeNews und ebenso klar für die Wahrheit kämpfen.

DW: Würde er sich damit auch neuen Formen von religiösen Fundamentalismen und Schwärmereien widersetzen, die wir erleben?

Speer: Thomas steht für ein Modell, in dem die Theologie eine Wissenschaft wird. Das bedeutet im Kern, dass sich die Gründe für unsere Überzeugungen, auch für die Glaubensüberzeugungen vor dem Richtstuhl der allgemeinen Vernunft verantworten müssen. Dass die Theologie eine Wissenschaft ist, hat zur Konsequenz, die allgemeinen Regeln für jede Wissenschaft an einer Universität zu übernehmen und wie diese, Rechenschaft über die Gründe des Wissens zu geben.

Um es ins Heute zu übertragen: Was Jürgen Habermas von Religion in einer pluralistischen Gesellschaft einfordert, ist genau diese Art von Rechenschaft vor dem Richtstuhl der allgemeinen Vernunft. Darin liegt für Habermas der Schlüssel, dass auch eine religiös plurale Gesellschaft funktioniert. Und auch weil Thomas stets Wert auf eine vernünftige Begründung legt, hat er für Fundamentalismen irgendwelcher Art nichts übrig.

DW: Aber - um ein Gegenbeispiel zu nennen: Von Thomas gibt es auch Äußerungen über eine defizitäre Persönlichkeitsstruktur der Frau, ihre Nachordnung. Würde er sich heute dafür schämen oder war das einfach damals Stand der Wissenschaft?

Speer: Ja. Das war damals – man mag es bedauern – state of the art der Naturphilosophie bzw. Naturwissenschaft. Es gibt eine ganze Reihe solcher Äußerungen bei Thomas. Aber darin unterscheidet sich Thomas nicht von anderen großen Denkern. Wir sind immer nur so klug wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse unserer Zeit. Darüber sollten wir heutzutage nicht gar zu erhaben urteilen. Schauen wir doch in die jüngere Geschichte etwa mit Bezug auf Frauenrechte. Noch die Generation meiner Mutter brauchte, um arbeiten gehen zu können, die Erlaubnis ihres Mannes. So lange wirkte diese fehlerhafte naturphilosophische Lehre nach. Deswegen ist Wissenschaftsgeschichte so wichtig, um zu verstehen, wie es zu Vorurteilen und wie es zu Neuaufbrüchen kommt. Thomas selbst sieht die Wissenschaftsgeschichte als eine Möglichkeit, von den Stärken und aus den Schwächen zu lernen und Fragen und Probleme besser zu verstehen.

Als Thomas von Aquin in Köln lernte, begann gerade erst der Bau des Kölner Doms (ab 1248). Bild: Christoph Hardt/Geisler-Fotopress/picture alliance

DW: Ich würde gern noch einen Blick auf Europa lenken. Thomas lernte und lehrte in Neapel und Bologna, Paris und Köln. Heute wäre das die Karriere eines Erasmus-Studenten. Was er vermittelte, war die Philosophie der damaligen Welt. Ist sein Denken – aus dem Heute gesehen – eurozentrisch?

Speer: Ein solcher Eurozentrismus ist wahrlich nicht Thomas‘ Problem. Für Thomas ist Philosophie viel globaler. Gerade die großen arabischen und jüdischen Denker seiner Zeit haben ihm die Welt eröffnet und das lateinische Europa geweitet. Die Philosophie des Jahrtausends, das wir heute Mittelalter nennen, reflektierte im Grunde die Welt rund um das Mittelmeer herum. Diese war vielsprachig, sie war multiethnisch, sie war multireligiös. Und es gab einen lebendigen Austausch zwischen diesen Kulturen und Sprachen durch Übersetzungen, durch den Austausch von Texten und nicht zuletzt durch Reisen. Gerade das lateinische Europa hat davon am allermeisten profitiert. Thomas wusste das. Und er wusste auch, dass dieses Europa nicht der Nabel der Welt ist.

DW: Dieses Europa ist heute geprägt von Eurozentrismus und von Nationalismen.

 

Speer: Aber dieser Eurozentrismus ist ein Problem der Neuzeit. Heute bräuchte es eine Rückbesinnung gerade auf das Jahrtausend, das wir Mittelalter nennen, um aus einem eurozentrischen oder sogar nationalistischen Denken herauszukommen. Machen wir uns folgendes klar: Der große Augustinus war auch ein Afrikaner. Averroes gehört ebenso nach Marrakesch, Maimonides nach Kairo. Das kann für dieses Europa, das sich heute abschottet, Denkanstoß sein, neu zu denken und zu verstehen, was globales Denken heißt.

Zur Zeit des Thomas gab es ja noch keine Nationalstaaten. Er zog als Bettelmönch durch Europa und war damit Europäer avant la lettre. Er hat sich sein Europa erwandert, das für ihn eine Welt der Gelehrsamkeit und der noch jungen Universitäten war. Auf diese Weise hat er dazu beigetragen, das Wissen aus den Klostermauern in die damals entstehende städtische Öffentlichkeit hinauszutragen. In diesem Sinne eine sehr europäische Figur.

Wenn es ein Erbe des Thomas für Europa gibt, dann ist es die Verpflichtung, im gesellschaftlichen Zusammenleben respektvoll, offen und vernunftbasiert miteinander umzugehen. Europawahl hin oder her - dafür sollte Europa stehen, dazu ist Europa verpflichtet.

Andreas Speer (66) ist ein deutscher Philosoph und seit 2004 Professor für Philosophie an der Universität zu Köln. Er ist Direktor des Thomas-Instituts der Uni Köln. Speer ist ordentliches Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

Interview: Christoph Strack