1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Reise

Was tun, wenn russische Touristen ausbleiben?

Martin Koch
19. April 2022

In Russland gilt Urlaub als Statussymbol. Länder wie Thailand, Kuba und die Türkei sind besonders beliebt - und stehen jetzt vor einem Dilemma: Die Russen bleiben wegen des Krieges in der Ukraine weg.

Weltweit | Russische Touristen im Urlaub in Thailand
Bild: MLADEN ANTONOV/AFP/Getty Images

In den vergangenen Jahren hat sich in Russland eine wohlhabende Mittelschicht etabliert, der Urlaub wichtig ist und die dann auch gerne Luxus genießen möchte. Zu ihren Lieblingszielen gehören Länder wie Kuba, Indonesien, Thailand und die Türkei. Auch die Malediven, die Seychellen und Sri Lanka zogen immer mehr Gäste aus Russland an, ebenso das sonnenverwöhnte Zypern im Mittelmeer, wie die Tourismusbehörde der Vereinten Nationen (UNWTO) der DW mitteilte.

Laut UNWTO sorgten russische Touristen im Jahr 2020, aus dem die aktuellsten Zahlen vorliegen, weltweit für einen Umsatz von 14 Milliarden US-Dollar und machten drei Prozent des Gesamttourismus aus. Vor der Corona-Pandemie (2019) war der Umsatz mit 36 Milliarden Dollar sogar mehr als doppelt so hoch, ukrainische Reisende steuerten nach den Angaben der Welttourismusorganisation noch einmal 8,5 Milliarden Dollar Umsatz bei.

Im zyprischen Famagusta sind einige Hotels zu 100 Prozent von russischen Touristen abhängigBild: MATTHIEU CLAVEL/AFP/Getty Images

In den oben genannten Ländern läuten seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine die - touristischen - Alarmglocken. Auf Zypern machen Gäste aus Russland (20 Prozent) und der Ukraine (2 Prozent) insgesamt 22 Prozent der Übernachtungen aus. Der Türkei könnten - auf Grundlage der Zahlen der türkischen Statistikbehörde vom Vorjahr - rund 4,7 Millionen Besucher aus Russland fehlen - plus etwa zwei Millionen aus der Ukraine.

Dabei sind die Zielorte je nach ihrer Ausrichtung betroffen, so Professor Urs Wagenseil vom Kompetenzzentrum der Hochschule Luzern. "Manche Regionen wie die türkische Südküste, Thailand oder Bali werden große Touristenmengen verlieren, während Städte wie St. Moritz, Sölden oder Wien die 'upper class'-Touristen vermissen werden." So oder so stehe fest, dass diese Defizite sich nicht "von heute auf morgen" kompensieren lassen.

Russische Touristinnen auf Kuba - gern gesehen und jetzt schmerzlich vermisstBild: ADALBERTO ROQUE/AFP/Getty Images

Noch dramatischer sind die Auswirkungen für Kuba. Für die dortige Tourismusindustrie hatte sich Russland zum Hoffnungsträger entwickelt, nachdem aufgrund der Corona-Pandemie die Besucherzahlen auf der Karibikinsel im Jahr 2021 um 70 Prozent eingebrochen waren: 40 Prozent aller ausländischen Kuba-Touristen kamen aus Russland.

Diversifizierung ist wichtig

Grundsätzlich ist es für ein Land immer ratsam, sich nicht zu stark auf Urlauber aus einem einzigen Herkunftsland zu spezialisieren, sagt Professor Jürgen Schmude, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Tourismusforschung, im Gespräch mit der DW. "Aber das Lehrbuchwissen lässt sich nicht immer in die Realität übertragen", fügt er hinzu.

Die Tourismusbranche hat bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie über einen Zeitraum von 20 Jahren ein kontinuierliches Wachstum verzeichnet. Viele Länder hätten es geschafft, sich zunehmend zu diversifizieren, betont Jürgen Schmude und verdeutlicht das an der Türkei: Das Land am Bosporus ziehe neben den rund viereinhalb Millionen russischen Touristen eben auch viele Millionen aus anderen Ländern an.

Auch auf Zypern blicken Hoteliers und Gastronomen vergleichsweise gelassen auf die weitere Entwicklung. So sagte Philokypros Roussounides, der Generaldirektor des zyprischen Hotelverbandes, dass man "dank einer verbesserten Zusammenarbeit mit Frankreich, Deutschland, Polen, Ungarn und anderen europäischen Staaten 2022 besser dastehen werde als im Vorjahr, trotz ausbleibender Gäste aus Russland und trotz höherer Energiepreise."

Krieg als "Urlaubsrisiko"

Ein anderer Aspekt kann aus Sicht der Tourismusforscher für die Zielländer mindestens genauso schwerwiegende Folgen haben wie das Ausbleiben von Reisenden aus einem bestimmten Herkunftsland: Wenn nämlich Ereignisse eintreten, die ein schlechtes Licht auf eine Urlaubsregion werfen und eine "Bedrohung" (englisch: hazard) des geplanten Urlaubs darstellen. Dann stornieren auch Urlauber aus anderen Ländern ihre geplanten Aufenthalte und verschlechtern die Bilanz des Urlaubslandes zusätzlich.

Jürgen Schmude, Präsident der Deutschen Gesellschaft für TourismuswissenschaftBild: privat

Solche Ereignisse können Naturkatastrophen sein - die Wissenschaftler sprechen dann von "natural hazards" - wie Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Überschwemmungen. Aber auch von Menschen verursachte Bedrohungen ("man-made hazards") wie Kriege, Terroranschläge oder politische Umstürze können Reisewillige in ihren Plänen erschüttern.

Auffällig sei dabei, dass ein Ereignis umso stärker abschreckend wirkt, je weiter entfernt es sich von der eigenen Heimat ereignet. "Je weiter weg der 'hazard' ist, desto größer ist der Raum, der von den Menschen als 'gefährlich' angesehen wird", sagt Jürgen Schmude.

"Touristen haben ein kurzes Gedächtnis"

Als Beispiel nennt er die Terroranschläge von Paris. "Nach den Attentaten 2015 hat es sehr, sehr lange gedauert, ehe sich Touristen aus Asien oder Amerika wieder nach Europa getraut haben, sie dachten, ganz Europa wäre gefährlich - Reisende aus Frankreichs Nachbarländern waren da schon lange wieder als Urlauber im Land", so der Tourismusexperte.

Grundsätzlich habe der Tourist "ein kurzes Gedächtnis", sagt Schmude. Das bedeutet, dass schon nach relativ kurzer Zeit der Reisewunsch wieder die Sorge vor Gefahren überwiegt. "Aber die Reisenden verzeihen natural hazards schneller als man-made hazards", erklärt Jürgen Schmude.

Urs Wagenseil, Kompetenzzentrum Tourismus Hochschule LuzernBild: Privat

Und es sei entscheidend, ob es ein einzelnes Ereignis gewesen sei oder ob es in der Folge ähnliche Vorfälle gegeben habe, betont auch Urs Wagenseil von der Hochschule Luzern. So seien viele sehenswerte Länder wegen wiederholter "hazards" über Jahre hinweg von der touristischen Landkarte verschwunden oder sind es noch: "Tunesien, Ägypten, Sri Lanka, Irak, Syrien, Myanmar, Afghanistan, Mexiko - sie alle litten lange Zeit darunter, dass immer wieder Krieg und Terror die Touristen abschreckten", so der Schweizer Tourismusforscher.

"Reisen soll Freude vermitteln, Leid und Tragödien will man vermeiden. Und weil es für jede Reiseform Alternativen gibt, werden Krisengebiete logischerweise gemieden", sagt Urs Wagenseil. Und man dürfe sich nicht zu sehr auf eine Art von Attraktion konzentrieren. "Wer nur Sonne, Sand und Meer anbieten kann, muss sich bewusst sein, dass bei örtlicher Meeresverschmutzung ein temporärer Totalausfall drohen kann", warnt der Tourismusexperte.

Ausfälle nicht kompensierbar

Wenn Reisende ausbleiben wie jetzt angesichts des Ukraine-Krieges, stehen vom Tourismus abhängige Länder vor schweren Zeiten, denn eine Kompensation für entgangene Einnahmen ist nur sehr begrenzt möglich - wenn überhaupt. Die UN-Tourismusbehörde ist eigenen Angaben zufolge im Kontakt mit den Mitgliedsländern um sie bestmöglich bei der Bewältigung der Krise und bei einer möglichen Neuausrichtung ihrer Marketingstrategie zu unterstützen. Darüber hinaus gibt es in manchen Staaten Hilfsprogramme, doch die kommen oft nur für einen Bruchteil der Verluste auf.

Dieser Zustand ließe sich ändern, indem neue Zielgruppen und Reisende aus anderen Ländern gewonnen werden. Doch dafür braucht es Zeit und erfordert finanzielle Rücklagen. Beides ist aber nach zwei Jahren Pandemie vielerorts zu einem raren Gut geworden.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen