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Politik

Was wollen Serbiens demonstrierende Studenten?

23. Oktober 2025

Seit einem Jahr protestieren in Serbien Studentinnen und Studenten. Wogegen gehen sie auf die Straße? Und was nährt ihre Hoffnung, tatsächlich eine echte Demokratie in dem Westbalkanland durchsetzen zu können?

Eine große Menschenmenge nimmt an einer Demonstration teil. Im Vordergrund hält eine Person ein Plakat mit einem roten Handabdruck hoch. Um sie herum stehen viele weitere Menschen, einige tragen Fahnen und Banner in Blau, Weiß und Rot. Im Hintergrund sind Bäume und Straßenlaternen zu sehen, die Szene spielt sich offenbar am Abend ab
Demonstrierende Studentinnen und Studenten im SeptemberBild: Djordjevic/BETAPHOTO/SIPA/picture alliance

Sie marschieren, demonstrieren, blockieren Universitäten. Zeitweise gingen mehr als 300.000 Menschen gleichzeitig auf die Straßen - die größten Proteste in der Geschichte Serbiens.

Ein Aufstand der Jugend, der nicht enden will - und dessen Ausgang völlig offen ist. Es ist ein Aufstand gegen Korruption, gegen die autoritäre Herrschaft des mächtigen Präsidenten Aleksandar Vucic. Er reagiert darauf mit Propaganda über regierungstreue Medien und behauptet, es handle sich um eine "farbige Revolution", gesteuert aus dem Ausland.

Wie konnte eine Generation neue Hoffnung wecken, ein Regime zu stürzen, das seit 2012 mit eiserner Faust über die 6,7 Millionen Einwohner des Landes auf dem Westbalkan herrscht? Und was gibt den Studenten die Zuversicht, Jahrzehnte des Nepotismus zu überwinden?

Korruption kostet Menschenleben

Alles begann am 1. November 2024 um 11:52 Uhr. Plötzlich stürzte das massive Betonvordach des Bahnhofs in Novi Sad, der zweitgrößten Stadt des Landes, ein. Sechzehn Menschen kamen ums Leben. Pikant: Der Bahnhof war kurz zuvor für viel Geld renoviert worden - aber niemand hatte die Stabilität des Vordaches geprüft. Die Opposition und wenige unabhängige Medien sprachen von Korruption, bald schlossen sich auch die Studentinnen und Studenten an.

Einsatzkräfte an der Stelle, an der am 1. November 2024 in Novi Sad das Vordach des Hauptbahnhofs einstürzteBild: Nenad Mihajlovic/AFP/Getty Images

"Ich glaube, das war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat", sagt Jelena Popadic, eine Studentin aus Novi Sad, mit der die DW im Laufe des Jahres mehrfach gesprochen hat. "Hier wird seit so langer Zeit gestohlen, dass die Leute sich daran gewöhnt haben. Aber jetzt hat die Korruption Menschenleben gekostet."

Aufstand der Generation Z

Nach dem Unglück fanden im ganzen Land Gedenkversammlungen statt - mitten auf Straßenkreuzungen, immer um 11:52 Uhr. Kurz darauf begannen die Blockaden aller staatlichen Universitäten. Die Studenten organisierten sich in Vollversammlungen, sogenannten "Plenen", nach dem Prinzip direkter Demokratie.

Demonstranten blockieren im Februar eine Durchgangsstraße im südserbischen NisBild: Marko Djurica/REUTERS

Vucic, das Zugpferd der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) - einer "Catch-all"-Partei ohne klare Ideologie, die zwischen West, Russland und China laviert - war zunächst überrumpelt vom Ausmaß des Aufstands. Doch nicht nur er war überrascht: Denn in Serbien erhob sich erstmals die "Generation Z", die bisher als politisch desinteressiert galt.

"Neben der Mobilisierung der Bürger und uns Älteren ist es ihnen gelungen, auch die Jugend zu mobilisieren", sagt Vladan Djokic, Rektor der Universität Belgrad. "Sie haben sogar Jüngere als sich selbst angesprochen - Gymnasiasten, ja sogar Grundschüler. Das gibt Hoffnung, dass künftige Generationen sich um unsere Gesellschaft kümmern und aktiv zu einem besseren, demokratischeren Staat beitragen werden, in dem Rechtsstaatlichkeit nicht nur ein Wort ist", so Djokic im Interview mit dem Wochenmagazin Vreme (Zeit).

Die Studenten zeigen auf Protesten demonstrativ nur die serbische Flagge, vermeiden jede parteipolitische oder ideologische Symbolik. Unter dieser Flagge versammeln sich auch Studenten aus Novi Pazar, einer Stadt mit überwiegend muslimischer Bevölkerung.

Vucic spricht von einer "farbigen Revolution"

Auf den neuen, unberechenbaren Gegner reagierte Präsident Vucic zunächst mit einer Mischung aus Drohungen und Zugeständnissen - die Regierung wurde entlassen, den jungen Leuten versprach er günstige Wohnungskredite. Doch aus Sicht der Studenten blieb der wichtigste Punkt unerfüllt: eine faire Untersuchung des Dacheinsturzes und die Veröffentlichung der gesamten Dokumentation zur Bahnhofsrenovierung.

Serbiens Präsident Aleksandar Vucic beim Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft im Mai 2025Bild: STRINGER/Light Studio Agency/IMAGO

Zwar wurden zwei ehemalige Minister und mehrere andere Verdächtige verhaftet, die von der Staatsanwaltschaft für organisierte Kriminalität der Unterschlagung verdächtigt werden. Doch genau diese Staatsanwaltschaft geriet nun ins Visier von Vucic und seiner Medienmaschine - Boulevardblätter und Fernsehsender beschuldigen die Ermittler, einen angeblichen "Staatsstreich" zu planen.

Brutale Übergriffe der Polizei

Seit dem Sommer, als die Universitätsblockaden beendet wurden, indem die Regierung den Professoren schlicht die Gehälter strich, häufen sich die Anschuldigungen gegen die Polizei wegen brutaler Übergriffe. Dutzende friedliche Demonstranten wurden zusammengeschlagen, andere sitzen seit Monaten in Untersuchungshaft - unter dem Vorwurf, die "verfassungsmäßige Ordnung" stürzen zu wollen.

Mitte August 2025: Polizisten gehen in Belgrad gegen regierungskritische Demonstranten vor Bild: Darko Vojinovic/AP Photo/picture alliance

In seinem jüngsten Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung präsentierte Vucic erneut keine Beweise für eine große Verschwörung westlicher Geheimdienste - doch er deutete sie wieder an: "Ich habe nie gesagt, dass alles von außen organisiert wurde. Aber es wird gut aus dem Ausland finanziert, denn diese Leute haben nicht genug Geld, um das selbst zu bezahlen", sagte Vucic. "Zum Beispiel: Diese Studenten, die die Universitäten blockiert haben, müssen ja auch dreimal am Tag essen."

EU nur Zuschauer?

Lange Zeit schwieg die Europäische Union zu solchen Anspielungen, denn mit Vucic ließ sich gut zusammenarbeiten. Kenner der Szene sagen, das liege daran, dass er in der Kosovo-Frage kompromissbereit sei - und dass er Deutschland serbisches Lithium versprochen sowie halbheimlich Waffen und Munition an die Ukraine geliefert habe, trotz Serbiens traditioneller Freundschaft zu Russland.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei einer Pressekonferenz in der serbischen Hauptstadt Belgrad am 10.10.2025 Bild: Amir Hamzagic/Anadolu Agency/IMAGO

Doch inzwischen ändert sich auch das. Die Europäische Volkspartei (EVP) prüft den Status von Vucics SNS als assoziierte Partei in dem konservativen Bündnis. Bei ihrem letzten Besuch in Belgrad blieb EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gegenüber Vucic auffallend kühl.

Diese Regierung führe Serbien weder in die EU, noch setze sie die notwendigen Reformen um, sagt Naim Leo Besiri, Direktor des Instituts für Europäische Angelegenheiten, einer Belgrader NGO. "Deshalb stehen die Menschen seit einem Jahr auf der Straße. Denn es gibt in der Polizei jeden Tag jemanden, der Menschen zusammenschlägt - und weiß, dass er dafür nie zur Rechenschaft gezogen wird", so Besiri gegenüber der DW. Doch solange keine klare politische Alternative zu Vucic am Horizont auftauche, werde es der EU schwerfallen, mit jemand anderem als der derzeitigen Regierung Serbiens zusammenzuarbeiten.

Die Studenten bereiten ihre Wahlliste vor

Diese Alternative, glauben viele, könnte aus den Reihen der Studenten kommen. Vom Straßenprotest und den Universitätsblockaden haben sie sich inzwischen in Richtung klassischer Politik bewegt - sie fordern Neuwahlen. Vucic lehnt das bisher ab, deutet aber an, dass es im kommenden Jahr dazu kommen könnte.

Der Präsident verfolgt die Meinungsumfragen aufmerksam. Derzeit liegt eine Liste von Professoren, Intellektuellen und Bürgerrechtlern, die die Studenten zusammenstellen, deutlich in Führung - obwohl sie noch nicht einmal offiziell existiert. Doch ein Vorsprung in den Umfragen bedeutet in Serbien wenig. Das Regime hat alle Wahlen der letzten Jahre klar gewonnen - nicht zuletzt, weil es den öffentlichen Sektor kontrolliert und die Stimmen der dort Beschäftigten mobilisiert oder erpresst.

Die Studenten stört das nicht. Sie sind bereit, jeden einzelnen Wahlzettel zu verteidigen, wann immer gewählt wird. Von der etablierten Opposition in Serbien, die zersplittert und schwach ist und kaum Vertrauen genießt, distanzieren die sich weiterhin.

Was unterscheidet sie von früheren, gescheiterten Protesten gegen Vucics Herrschaft? "Ich denke, der Unterschied liegt in den Menschen. Die Leute haben verstanden, dass es jetzt oder nie ist", sagt Studentin Jelena Popadic. "Sie werden nicht aufgeben. Die Jugend hat nichts zu verlieren. Das Leben hier hat so einfach keinen Sinn. Das ist unsere letzte Chance."

Für Samstag, den 1. November, ist erneut ein riesiges Treffen in Novi Sad geplant - dort, wo vor einem Jahr alles mit einer Tragödie begann. Die Behörden warnten bereits vor angeblich drohender Gewalt - ein Hinweis, den die Studenten als verdeckte Drohung vor Polizeigewalt verstehen. Doch sie lassen sich nicht einschüchtern.

Serbien zwischen Protest und Perspektive

12:33

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