Fußball-EM und Olympische Spiele gehen aufs nächste Jahr, die Tour de France verschiebt ihren Start nur um zwei Monate. Das Kalkül dahinter ist verständlich - doch das Vorgehen ist in mehrfacher Hinsicht riskant.
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Der Druck war gewaltig, doch die Beharrungskräfte beachtlich: Als letztes Großereignis des Sportsommers 2020 beugt sich nun auch die Tour de France der Corona-Pandemie. Die 107. Frankreich-Rundfahrt wird um rund zwei Monate verschoben und soll nun vom 29. August bis zum 20. September durch Frankreich rollen. Durch ein Land, das schwer von der Seuche gezeichnet ist. Es ist ein ambitionierter Plan, der einige Risiken birgt.
Keine "Geistertour"
Denn aktuell kann niemand verlässlich sagen, ob Ende August wieder ein Sport-Großereignis mitten in Europa stattfinden kann. Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron hatte verkündet, dass wegen der Coronavirus-Pandemie "Veranstaltungen mit großem Publikum frühestens Mitte Juli abgehalten werden" könnten. Angesichts der Auswirkungen der Pandemie auf Frankreich darf man "frühestens" nicht mit "spätestens" verwechseln: Mehr als 130.000 Menschen sind hier nach Angaben der Johns-Hopkins-Universität infiziert, mehr als 15.000 bereits verstorben (Stand: 15. April).
Frankreichs Gesundheitssystem ist stark belastet, einige Patienten wurden sogar ins Ausland verlegt, da manche Kliniken am Limit arbeiten. Ob und wann sich die Situation entspannt, kann derzeit niemand genau sagen. Ein Radrennen durchs ganze Land mit 4500 Menschen im Tross und rund 12 Millionen Zuschauern, die dicht an dicht Spalier stehen, ist aus virologischer Sicht zu Pandemiezeiten ein Albtraum.
Doch genau das plant die Tour. "Die Tour de France wird nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden", ließ Tourdirektor Christian Prudhomme bereits Anfang April keinen Zweifel. Eine "Geistertour" ohne Zuschauer ist für die Macher des größten Radrennen der Welt undenkbar - aus gutem Grund. Die Tour schließt mit den gastgebenden Städten und Regionen Verträge, die viel Geld einbringen. Ein Grand Départ mit den ersten Etappen kostet die Ausrichter gut fünf Millionen Euro, ein Etappenort je nach Größe der Stadt 200.000 Euro und mehr.
Dafür erwarten die Städte und Kommunen einen Gegenwert, und der besteht in der Regel neben den TV-Bildern und der Nennung der Stadt in den Medien vor allem aus einem kräftigen Schub für den lokalen Tourismus. Und die Sponsoren zahlen auch deshalb Geld an die Tour de France, weil die vorweg fahrende Werbekarawane viele Millionen Menschen an der Strecke erreicht. Die Tour muss also mit Zuschauern kommen. Aber geht das in diesem Jahr überhaupt?
Das Peloton hofft und zweifelt
Nikias Arndt ist sich da nicht sicher. Der deutsche Radprofi ist Roadcaptain im Sunweb-Rennstall, also so etwas wie der Teamkapitän im Fußball. Er hofft auf die Chance, sich und sein Team in Frankreich präsentieren zu können, doch in seine Aussagen mischen sich auch nachdenkliche Töne. "Aktuell ist das für mich noch ganz weit weg. Ich kann es mir noch schwer vorstellen, dass eine Massenveransstaltung wie die Tour de France stattfinden kann. Hier in Deutschland hat man die Situation aktuell halbwegs gut im Griff, aber weltweit ist es extrem unterschiedlich", so der Allrounder im DW-Gespräch mit Blick auf weltweite Corona-Pandemie. "Der Radsport ist global, unser Team ist aktuell verteilt auf drei Kontinente. Das wird nicht einfach. Aber wir bereiten uns nun hundertprozentig auf den Ersatztermin vor."
Der neue Termin verschafft eine scheinbare Planungssicherheit. Statt der Ungewissheit, wann und ob wieder Radrennen ausgetragen werden können, hat die Branche wieder ein Zieldatum: den Tourstart am 29. August. Davor gibt es noch nationale Meisterschaften, danach noch Giro, Vuelta, Klassiker und die WM. So zumindest die Planspiele des Weltradsportverbandes UCI. Doch all das ist mehr oder weniger Beiwerk, die Tour de France ist der Dreh- und Angelpunkt.
150 Millionen Euro wird mit der Tour jährlich umgesetzt und für viele Teams ist sie das Kerngeschäft: Für die deutsche Mannschaft Bora-Hansgrohe macht die Tour 70 Prozent ihres jährlichen Werbewerts aus, rechnet Teamchef Ralph Denk im DW-Interview vor. "Das ist das höchste Gut für uns", so der 46-jährige Manager, der im Kontrast zum Tour-Chef klarstellt: "Anders als im Fußball leben wir nicht von den Zuschauern am Streckenrand. Lieber eine Tour de France ohne Zuschauer als keine Tour de France."
Sein Schützling Maximilian Schachmann teilt diese Ansicht. Denks Position verdeutlicht auch: Ein kompletter Ausfall der Tour wäre ein GAU für den Radsport. Das Geschäft für dieses Jahr irgendwie noch zu retten, ist das Kalkül von Verband, Veranstalter und Teams.
Scheinbare Einigkeit
"Wir brauchen die Tour, unbedingt", sagt Denks Kollege Marc Madiot der DW. Er leitet seit fast 25 Jahren den französischen Groupama-FDJ-Rennstall und hat mit Thibaut Pinot den langersehnten nächsten französischen Tour-Sieganwärter in seinen Reihen. "Viele Teams und Fahrer wären in großen Schwierigkeiten, sollte die Tour am Ende nicht stattfinden. Wir Teams haben keine Einnahmen aus TV-Rechten. Wir leben von den Sponsoren, sie sind unsere Lebensader", sagt Madiot, der früher selbst Radprofi war.
Die Veranstalter der Tour betonen die Einigkeit der Szene. "In den vergangenen Wochen gab es eine ständige Kommunikation zwischen Fahrern, Teams, den Organisatoren und anderen relevanten Dritten. All dies geschah mit der Unterstützung des Weltverbandes UCI, der für die Organisation eines neuen globalen Rad-Kalenders verantwortlich ist, in dem die Tour einen Ehrenplatz einnimmt", hieß es in einer Mitteilung der ASO. Tatsächlich berichten Insider von einem Tauziehen der Veranstalter um Termine und offene Lücken im engen Rennkalender, der nun offiziell erst im August startet.
Ursprünglich hätte das wichtigste Rennen der Welt am 27. Juni in Nizza beginnen sollen. Bereits am Dienstag war klar, dass dieser Termin nicht mehr zu halten war. Dass auch der neue, im Vergleich zu anderen Sportevents wie Olympia oder der Fußball-EM (beide erst 2021) sehr ambitionierte Zeitplan kippen könnte, ist das Risiko, das man eingeht. Die Vorbereitungen auf das verschobene Großereignis kosten viele Parteien Geld, das im schlimmsten Fall auch versenkt sein könnte.
Abstand? "Unmöglich"
Für die Profis beginnt nun die Vorbereitung auf die Tour - und das unter höchst unterschiedlichen Voraussetzungen. Manche Länder wie die Niederlande oder Deutschland erlauben weiter das Training auf den Straßen, wenngleich nicht mehr als Gruppe. In Spanien, Italien oder Frankreich müssen die Athleten zuhause auf dem Hometrainer an ihrer Fitness arbeiten.
Dazu kommen Reisebeschränkungen: Viele Profis gehen vor der Tour normalerweise ins Höhentrainingslager, was in diesem Jahr kompliziert werden dürfte. Und dann ist da noch die Sorge vor einem erneuten Ausbruch. Im Februar saß das Peloton der UAE Tour in den Emiraten fest, wurde wegen Corona-Verdachtsfällen vor Ort unter Quarantäne gestellt. Prägende Erfahrungen für manchen Profi, denn einige waren mehr als zwei Wochen lang im Hotel eingesperrt.
Der Neustart des Renngeschehens sollte wohl überlegt sein, denn eins ist klar: Wirkungsvolle Schutzmaßnahmen gegen das Virus sind im Rennbetrieb nicht einzuhalten. "Abstand im Rennen zu halten, ist unmöglich. Niemand würde das tun", ist Nikias Arndt überzeugt. "Da geht es um jedes Watt Leistung und man nutzt den Windschatten. Sich da zu schützen, ist ganz schwierig. Wenn es dann erneute Infektionen geben sollte, könnte das ganz schnell das Aus bedeuten."
Momente der Tour de France
Sie ist weit mehr als das größte Radrennen der Welt: Die Tour de France ist ein Nationalheiligtum Frankreichs und versammelt jährlich 12 Millionen Zuschauer am Streckenrand. Die Dramen der Landstraße sind legendär.
Bild: picture-alliance/AP Photo/C. Ena
Rekordvorsprung trotz Rotwein
Maurice Garin (2.v.l.) ist gelernter Schornsteinfeger. Der Franzose legt viel Wert auf eine ausgewogene Ernährung, trinkt andererseits aber auch auf dem Rennrad Rotwein und ist Kettenraucher. Trotzdem gewinnt er 1903 die Premiere der Tour de France - mit dem Rekordvorsprung von fast drei Stunden.
Bild: STR/AFP/Getty Images
"Ihr seid Mörder!"
1910 werden die Fahrer erstmals über den Pyrenäen-Pass am Tourmalet geschickt, damals nicht viel mehr als ein Bergpfad. "Ihr seid Mörder, ja Mörder!", schleudert der Tages- und später auch Gesamtsieger Octave Lapize den Tour-Veranstaltern entgegen. Der 2115 Meter hohe Col du Tourmalet ist heute der am häufigsten gefahrene Pass der Tour und auf seinem Gipfel erinnert eine Statue an Lapize.
Bild: picture-alliance/Leemage
Selbst ist der Radfahrer
Wer auf solchen Pisten fährt, muss immer mit einem Platten rechnen. In den ersten Jahrzehnten der Tour-Geschichte reparieren die Fahrer ihre Räder selbst und tragen deshalb (wie hier 1948) auch einen Ersatzschlauch um die Schultern. Heute gehören Mechaniker in Begleitfahrzeugen wie selbstverständlich zum Tour-Tross.
Bild: picture-alliance/dpa
Der Meister der Meister
Fausto Coppi zählt zu den populärsten Radstars aller Zeiten. Seine Fans rufen den Italiener "Il Campionissimo", den Meister der Meister. 1949 und 1952 triumphiert Coppi nicht nur bei der Tour, sondern auch beim Giro d'Italia. 1952 stehen erstmals Bergankünfte auf dem Plan der Tour de France - gleich drei. Coppi gewinnt sie alle.
Bild: picture-alliance/dpa
Der Meister der Herzen
1964 liefern sich die beiden Franzosen Jacques Anquetil (l.) und Raymond Poulidor eines der spannendsten Duelle der Tour-Geschichte. Anquetil wehrt alle Angriffe Poulidors ab und holt sich seinen fünften Tour-Sieg. Die Fans lieben auch den unterlegenen "Poupou", der in seiner Karriere achtmal auf dem Podium landet, aber nie ganz oben.
Bild: picture-alliance/dpa
Das tragische Ende des Tom Simpson
Er fährt Schlangenlinien: Tom Simpsons tritt immer langsamer, bis der Brite kurz vor dem Gipfel des Mont Ventoux schließlich kollabiert. Herzstillstand. Die Versuche, ihn wiederzubeleben, scheitern. Tom Simpson stirbt während der Tour. Zwar lautet der Obduktionsbefund "Dehydratation", doch in seinem Blut werden Amphetamin und Alkohol gefunden. Zusammen mit Hitze und Anstrengung ein tödlicher Mix.
Bild: Getty Images/AFP
Gedenken an Casartelli
Auf schmalen Reifen mit Tempo 100 den Berg hinab - die Tour ist ein Spiel mit dem Risiko. Für manche endet es tödlich: 1935 stirbt der Spanier Francisco Cepeda bei einem Sturz in den Alpen. 1995 erwischt es Fabio Casartelli. Der Italiener verliert in den Pyrenäen die Kontrolle über sein Rad und stirbt wenige Stunden später an seinen Kopfverletzungen. Er trug keinen Helm.
Bild: picture-alliance/dpa
Der Kannibale
Eddy Merckx gibt alles. Nach dem Etappenerfolg auf dem Mount Ventoux muss der Belgier unters Sauerstoffzelt. Wegen seines unbändigen Siegeswillens wird Merckx "der Kannibale" gerufen. Mit 34 Etappen und fünf Gesamtsiegen steht er in den Rekordlisten der Tour. 1969 gewinnt Merckx neben der Gesamtwertung auch die Sprint- und die Bergwertung.
Bild: picture-alliance/dpa
Frankreichs Tour-Held
Seit 1985 wartet Frankreich vergeblich auf einen neuen Hinault. In jenem Jahr feiert der Franzose Bernard Hinault den letzten seiner fünf Tour-Siege. Auch heute ist der Nationalheld bei der Rundfahrt beinahe täglich im Bild. Als Mitglied des Organisationsteams gratuliert Hinault bei den Siegerehrungen den Fahrern.
Bild: picture-alliance/dpa
Das dramatische Finale
Keine der bisher 99 Auflagen ist so knapp wie die Tour 1989. Nach 3285 Kilometern liegt Sieger Greg LeMond (l.) aus den USA die Winzigkeit von acht Sekunden vor dem Franzosen Laurent Fignon (r.). Vor der Schlussetappe hat Fignon noch einen Vorsprung von 50 Sekunden. Doch der schmilzt im Zeitfahren nach Paris dahin, LeMond triumphiert.
Bild: picture-alliance/dpa
Der Außerirdische
Was Hinault für die Franzosen, ist Miguel Indurain für die Spanier. Der Baske thriumphiert von 1991 bis 1995 als Erster fünfmal in Serie. Vor allem im Zeitfahren dominiert der "Außerirdische" die Konkurrenz fast nach Belieben, auch in den Bergen fährt er stark. Bei Indurain wird ein rekordverdächtiger Ruhepuls von nur 28 Schlägen pro Minute gemessen.
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Triumph mit Schatten
Jan Ullrich (Mitte) stürmt mit eleganter Leichtigkeit 1997 zum ersten deutschen Toursieg 1997 und löst gemeinsam mit Grün-Gewinner Erik Zabel eine Radsport-Euphorie in der Heimat aus. Doch in der Rückschau sind die damaligen Helden, die hier mit dem Franzosen Richard Virenque posieren, keine mehr. Heute weiß man: Alle drei waren - zumindest zeitweise - gedopt.
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Die Tränen der Lügner
Große Emotionen, großes Drama bei der Tour 1998: Frankreichs Liebling Richard Virenque weint, weil er gemeinsam mit seinem Rennstall Festina die Tour verlassen muss. Zuvor war ein Teamwagen voll mit Dopingmitteln entdeckt worden. Virenque und Kollegen beteuerten ihre Unschuld - und mussten später doch gestehen, gedopt zu haben. Der Skandal erschütterte die Tour in ihren Grundfesten.
Bild: picture-alliance/dpa/G. Breloer
Dunkle Wolken über einem Märchen
Ein Sinnbild? Bei seinem ersten Toursieg 1999 verdunkelt sich der Himmel über Lance Armstrong. Ganz so, als wäre es eine Botschaft. Das Märchen vom Krebs-Bezwinger Armstrong, der wie Phönix aus der Asche steigt und von 1999 bis 2005 siebenmal triumphiert, ist zu schön, um wahr zu sein. 2012 wird er überführt, gesteht Doping, wird lebenslang gesperrt und verliert alle Tour-Titel.
Bild: picture-alliance/dpa
Das böse Steak
Noch ein Held, dessen Story Zweifel weckt: Der Spanier Alberto Contador ist wohl einer der stärksten Bergfahrer der Tour-Gechichte. Doch das Publikum misstraut ihm. Ein Zuschauer verfolgt ihn 2011 verkleidet als Dopingarzt. Sein dritter Tour-Titel im Jahr 2010 ist ihm wegen Dopings aberkannt worden. Contador beteuert bis heute, unwissentlich ein Clenbuterol-verseuchtes Steak gegessen zu haben.
Bild: picture-alliance/dpa
Permanente Sturzgefahr
"Radsport ist stürzen und weiterfahren", sagen die Profis. Auch bei der Tour. So müssen 2012 nach einem Massensturz bei Tempo 70 insgesamt 13 Fahrer das Rennen aufgeben. Gerade bei den ersten, meist flachen Etappen arbeiten die Tour-Ärzte fast im Akkord. Der Grund: Alle Teams wollen Tagessiege, um den Erwartungsdruck der Sponsoren zu erfüllen. Denn ohne die geht im Radsport nichts.
Bild: AP
Der Jogger vom Mont Ventoux
Radschuhe sind für Läufe denkbar ungeeignet. Die Pedalplatten an den Sohlen geben kaum Halt. Dennoch entscheidet sich der Brite Chris Froome bei der Tour 2016 zu einem Läufchen. Sein Rad ist nach einem Crash am Mont Ventoux kaputt, Ersatz nicht in Sicht. Froome will keine Zeit verlieren und läuft, bis er ein neues Rad erhält. Seine Laufeinlage sichert ihm einen weiteren Tour-Sieg.
Bild: picture-alliance/dpa/S. Mantey
Auf Biegen und Brechen
Die Tour ist ein täglicher Kampf: um Positionen im Feld, um Sekunden im Gesamtklassement und natürlich um Tagessiege. Die Sprinter sind dabei wenig zimperlich. Mark Cavendish (links in der Bande) und Peter Sagan (2. v. l.) treiben es bei der Tour 2017 auf die Spitze: Ihr Gerangel in Vittel endet für beide schmerzhaft - Cavendish bricht sich das Schulterblatt, Sagan wird disqualifiziert.
Bild: picture-alliance/AP Photo/C. Ena
Nicht alle lieben die Tour
Die Tour ist eine große Bühne, die auch ungebetene Nebendarsteller anzieht: So gibt es immer wieder Proteste, die mit dem Rennen wenig zu tun haben. Bei der Tour 2018 blockieren Bauern die Straße, um für den Erhalt der Landwirtschaft in ihrer Region zu protestieren. Die Polizei setzt Tränengas ein, dessen Wolke den Fahrern ins Gesicht weht. Nach einer Rennunterbrechung geht die Tour weiter.