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Deutsches Gericht hebt Auslieferung nach Polen auf

Grzegorz Szymanowski
10. März 2020

Ein mutmaßlicher Betrüger kommt frei, entschieden deutsche Richter. Sie bezweifeln ein faires Verfahren in Polen. Der Fall zeigt, wie die Reformen der PiS-Regierung das Vertrauen in die polnische Justiz untergraben.

Polen Gesetz zur Richter-Disziplinierung | Protest
Protest gegen die Verabschiedung des sogenannten "Disziplinierungsgesetzes" in WarschauBild: picture-alliance/AP Photo/C. Sokolowski

Eigentlich Routine: das Oberlandesgericht Karlsruhe wollte einen Mann nach Polen ausliefern lassen. In seinem Heimatland war er wegen Betrugsverdacht gesucht, in Deutschland dank Europäischem Haftbefehl verhaftet worden. So wie Tausende andere, die in ein anderes EU-Land vor Gerechtigkeit fliehen. Rechtsstaaten arbeiten schließlich zusammen.

Im Fall des mutmaßlichen Betrügers aus Polen ist die Sache jedoch komplizierter.

Denn im Januar verabschiedete die regierende konservative Partei PiS ein neues Gesetz zur Disziplinierung von Richter. Es war die nächste Stufe im Justizumbau, den die Regierung in Warschau seit 2015 betreibt. Justizminister Zbigniew Ziobro will nun gegen die "außergewöhnliche Kaste” vorgehen, also gegen Richter, die sich gegen die Justizreformen wehren. Mit den Reformen hat sich die Regierung mehr Einfluss auf die Gerichte gesichert.

Polens Justizminister Zbigniew ZiobroBild: imago images/ZUMA Press/A. Husejnow

Geldstrafen, Herabstufung, sogar Entlassung drohen nun denjenigen Richtern in Polen, die die Justizreformen auf Verfassungsmäßigkeit prüfen oder die Regierung kritisieren. Die Vorschriften sind vage formuliert und bieten der Regierung große Angriffsfläche an. Verfassungexperten des Europarates sehen sie als Verstoß gegen richterliche Unabhängigkeit. Richterverbände, Opposition und EU-Kommission schlagen Alarm.

Während der Streit in Polen eskalierte, standen die Richter 1000 Kilometer weiter westlich im süddeutschen Karlsruhe vor einer ganz praktischen Entscheidung: was tun mit dem verhafteten Mann, der die Vorwürfe bestreitet und angibt, in seinem Fall seien Zeugen für Falschaussagen bestochen worden?

Haftbefehl aufgehoben

Auf 31 Seiten ließen sich die Richter das polnische "Disziplinierungsgesetz” ins Deutsche übersetzen. Und stellten fest: wegen "hoher Wahrscheinlichkeit” der "Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren" sei die Auslieferung "derzeit unzulässig”. Es müsse geklärt werden, ob die polnischen Richter in dem Fall frei vom Druck der Regierung entscheiden könnten. Die Richter schickten mehrere Fragen an die polnischen Kollegen und das Justizministerium in Warschau.

Und den Mann, den polnische Justiz seit Jahren sucht, ließen die deutschen Richter Mitte Februar frei. Eine Entscheidung, die seit Wochenbeginn für Schlagzeilen in Deutschland und Polen sorgt. Wenn die polnischen Behörden ihren Fragenkatalog beantwortet haben, wollen sie endgültig feststellen, ob der Verdächtige ausgeliefert werden darf.

Das Oberlandesgericht in KarlsruheBild: picture-alliance/dpa/U. Deck

Es ist das erste Mal, dass ein Gericht in Deutschland die Justizreformen in Warschau als Gefahr für ein faires Verfahren ansieht und deshalb Verdächtige nicht nach Polen ausliefert. Die Entscheidung wirft viele Fragen auf, was die Zusammenarbeit Polens mit der EU angeht.

Drohende Isolation

"Wir haben eine solche Entscheidung erwartet. Das ist die Konsequenz des Angriffs auf die richterliche Unabhängigkeit durch die polnische Regierung und das Parlament”, sagt Richter Bartłomiej Przymusiński der DW. Er ist Vorstandsmitglied der Richtervereinigung “Iustitia”, in der sich etwa 30% der polnischen Richter zusammengeschlossen haben. Sie kritisieren die Justizreformen der PiS-Regierung.

"Ich freue mich nicht, denn ich würde mir wünschen, dass der Verdächtige in Polen vor Gericht gestellt wird. Aber leider beobachten wir, dass die polnische Justiz aus dem System des gegenseitigen Vertrauens in der EU langsam ausgeschlossen wird”, so Przymusiński weiter.

Richterrobe im Obersten Gericht in WarschauBild: Imago Images/ZUMA Press/P. Twardysko

Ähnlich sieht das der Deutsche Richterbund. "Durch den Umbau seines Justizsystems droht Polen sich in der europäischen Rechtsgemeinschaft zu isolieren”, sagt Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn der DW. Und erklärt: "Die anderen Mitgliedstaaten tun sich sehr schwer damit, ein Land bei der Strafverfolgung zu unterstützen, das sich immer weiter vom gemeinsamen Rechtsstaatsverständnis der EU entfernt'.

Das polnische Justizministerium will sich zu dem Fall nicht äußern. Auch nicht dazu, ob es auf die Fragen der Karlsruher Richter antworten wird. Der stellvertretende Justizminister Sebastian Kaleta schrieb auf Twitter, der Beschluss in Karlsruhe sei nur "einer von fast 2000 Fällen aus den letzten zwei Jahren”, in denen EU-weit eine Auslieferung nicht zustande gekommen sei.

"Das Maulkorbgesetz hat die Lage verändert"

Zweifel an der Unabhängigkeit der polnischen Justiz mehren sich jedoch in der EU. In den vergangenen zwei Jahren haben schon Gerichte in Irland, Spanien und den Niederlanden Auslieferungen gestoppt, um die Europäischen Haftbefehle aus Polen genauer zu überprüfen. Nach mehrmonatigen Verzögerungen wurden Verdächtige in der Regel doch noch ausgeliefert.

Deutsche Gerichte waren bisher zurückhaltender. "Das Maulkorbgesetz hat die Lage verändert”, sagt im DW-Gespräch Anna Wójcik, Koordinatorin der Warschauer Nichtregierungsorganisation "Osiatyński-Archiv” und Forscherin an der Polnischen Wissenschaftsakademie. Sie rechnet mit weiteren Konsequenzen der Entscheidung in Karlsruhe: “Richter in der EU beobachten in der Regel die Entwicklungen bei ihren Nachbarn. Und deutsche Gerichte haben große Bedeutung für Gerichte in anderen Ländern”.

Richter und Juristen aus rund 20 Staaten Europas protestierten Mitte Januar in Warschau gegen das sogenannte "Maulkorbgesetz", viele von ihnen Richterroben gekleidetBild: Getty Images/AFP/C. Sokolowski

Das wachsende Misstrauen lähmt die standardisierten Abläufe juristischer Zusammenarbeit, die gerade angesichts der offenen Grenzen innerhalb der EU wichtig sind. Auch in den Niederlanden werden derzeit mindestens drei weitere Fälle von Auslieferung nach Polen "auf unbestimmte Zeit” aufgehoben.

Der Europäische Gerichtshof hat es 2018 jedem Gericht in der EU überlassen, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob eine Auslieferung nach Polen zulässig ist. Praktisch bedeutet das, dass Richter mehrere Fragen an ihre polnische Kollegen verschicken: ob der Gerichtspräsident vom Justizminister ausgetauscht wurde, ob Disziplinarverfahren am Gericht eingeleitet wurden, ob Richter bestraft werden können, wenn sie die Glaubwürdigkeit von Zeugen infrage stellen.

Die Unsicherheit wächst

Kritiker der Justizreformen warnen davor, die Unklarheit über die Gesetzeslage in Polen könnte in Zukunft weitere Folgen haben. "Wenn sich diese Entzweiung der Rechtssysteme vertieft, kann das eine große Unsicherheit für Bürger und Unternehmen verursachen, ob Urteile von polnischen Gerichten in Zivil- und Handelssachen in anderen EU-Ländern anerkannt werden”, sagt Anna Wójcik.

Von etwaiger Verunsicherung unter Investoren ist bisher wenig zu spüren. Nach mehreren kleinteiligen Reformen über Jahre hinweg, die für Rechtslaien schwer zu verfolgen sind, bleiben mittlerweile auch größere Proteste aus.

Die Regierung rechtfertigt die neuen Regeln der Richterernennung. Sie seien ähnlich wie in anderen EU-Ländern, etwa in Deutschland, sagte Justizminister Ziobro. Kritik aus dem Ausland wird ungerne gesehen: niemand dürfe "in Fremdsprachen aufzwingen, welches System wir in Polen haben sollen”, sagte kürzlich Präsident Andrzej Duda.

"Freie Gerichte, freies Volk, freies Europa": Protest in WarschauBild: picture-alliance/NurPhoto/A. Kalka

Viele PiS-Kritiker schauen deswegen Richtung Brüssel. Die Europäische Kommission hat schon mehrere Vertragsverletzungsgefahren gegen die Regierung in Warschau eröffnet und Klagen beim Europäischen Gerichtshof eingereicht. "Die EU-Kommission muss den Druck auf Polen hochhalten, damit die Regierungspartei PiS die Demontage des Rechtsstaats stoppt”, sagt Sven Rebehn vom Deutschen Richterbund. 

Das wird jedoch dauern. Zurzeit entscheidet der Europäische Gerichtshof über ein anderes Element der Justizreformen, und zwar die Einführung von Disziplinarkammern für polnische Richter. Das neueste "Maulkorbgesetz” wurde von der Kommission noch nicht angefochten.

Der andauernde Konflikt kann Auslieferungen nach Polen noch lange verzögern. Davon gehen zumindest die Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe aus. In dem Beschluss zur Freilassung des gesuchten Mannes stellen sie fest, er müsse "aufgrund der politischen Entwicklung in Polen nunmehr auch nicht mehr zwingend mit seiner Auslieferung rechnen”.