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Kunst

Weimars Verfassungsdebatte noch einmal erleben

Sabine Peschel
22. August 2019

"Reichstags-Reenactment": Das Kunstfest Weimar feiert 100 Jahre nach ihrer Verabschiedung die erste demokratische Verfassung in Deutschland. Mit nachgestellten Reden über Biersteuer, Frauenrechte und Kriegsschuld.

Kunstfest Weimar - Reichstags-Reenactment
Bild: Candy Welz

Die Stimmung im sommerlichen Weimar könnte man heiter, fast ein bisschen altmodisch nennen. Touristen belagern die Straßenrestaurants, Fußgänger erfreuen sich an den Liedern, die Sänger und Musiker an bald jeder Ecke in den Gassen des herausgeputzten Städtchens erklingen lassen. Der Geist Herders, Goethes und Schillers ist intensiv spürbar: Ruhe, Frieden und Wohlsein prägen die Atmosphäre. Und doch kann sich wahrscheinlich kaum ein Besucher diesem gelassenen Gefühl völlig hingeben, ohne den Blick in Richtung des bewaldeten Ettersberg zu lenken. Eine knappe halbe Stunde brauchen die öffentlichen Busse vom Zentrum bis zur Gedenkstätte Buchenwald, ein etwas längerer Spaziergang hügelaufwärts. Das Weimar der epochenprägenden deutschen Klassik lässt sich nie ohne die unfassbaren Gräuel des Konzentrationslagers denken.An kaum einem anderen Ort in Deutschland drängt sich mehr die Frage auf, warum innerhalb von 14 Jahren aus einer parlamentarischen Demokratie ein System mörderischer Gewaltherrschaft werden konnte. Warum bildete die erste Verfassung, die die im Januar 1919 gewählte Nationalversammlung in Weimar sechs Monate lang erarbeitete, kein Bollwerk gegen das Aufkommen des Nationalsozialismus?

Dieses Foto der Nationalversammlung 1919 wurde in Weimar 2019 nachgestelltBild: Stadtarchiv Weimar

Vergangenheit wieder aufleben lassen

In einem großen Abend machte das Weimarer Kunstfest zu seinem diesjährigen Auftakt die Anfänge der Demokratie in Deutschland sinnlich erfahrbar. "Soziale Skulptur" nennt der aktuell am Berliner Maxim Gorki Theater wirkende Regisseur Nurkan Erpulat das "Reichstags-Reenactment", das er für diesen und einen zweiten Abend mit Weimarer Bürgern, Schülern und Politikern inszenierte.
Am 21. August 1919 endete die Sitzungsperiode der Nationalversammlung in Weimar, und die Abgeordneten versammelten sich im Gefühl, Großes geleistet zu haben, auf den Treppen und dem Balkon des Nationaltheaters. Zehn Tage, nachdem der von der konstituierenden Nationalversammlung gewählte Reichspräsident Friedrich Ebert am 11. August 1919 die neue Verfassung unterzeichnet hatte, entstanden historische Fotos.

Am selben Ort, exakt 100 Jahre später, wurden nun die Weimarer eingeladen, eines der berühmten Fotos nachzustellen. Und sie kamen in Scharen, einige sogar in dunklen Röcken und mit zeittypischer Kopfbedeckung. Trotzdem drückte das aktuelle Bild vor allem die Fröhlichkeit der späten, in Freiheit und Demokratie lebenden Nachfahren aus. Der Effekt könnte beabsichtigt sein.

Die Anfänge der Demokratie in Deutschland

Das Deutsche Nationaltheater, in dem 1919 bis zu 420 Abgeordnete hitzige Debatten führten, fasst hundert Jahre später nicht alle Menschen, die "Weimar 1919" noch einmal miterleben wollten. Was sie erwartete, waren drei Stunden Reden und Debattenbeiträge aus der Nationalversammlung vor hundert Jahren. Mit jedem einzelnen Wort wird klar, dass aller Streit auch heute noch weitergeführt wird und mancher Kompromiss noch immer umstritten ist. Das Publikum jubelte, als gälten die Worte Friedrich Eberts, mit denen er am 6. Februar 1919 die Nationalversammlung eröffnete, der Gegenwart: "Mit den alten Königen und Fürsten von Gottes Gnaden ist es nun für immer vorbei. Das deutsche Volk ist frei, bleibt frei und regiert in alle Zukunft sich selbst." Ein Schauspieler trug sie unkommentiert vor.
Die Weimarer Verfassung verankerte Grundrechte wie die Gleichberechtigung der Geschlechter. Schon als die Sozialdemokratin und Gründerin der Arbeiterwohlfahrt, Marie Juchacz die erste Rede einer Abgeordneten in der Nationalversammlung hielt, stand weibliches Rollenverständnis infrage. "Es wird uns nicht einfallen, unser Frauentum zu verleugnen, weil wir in die politische Arena getreten sind und für die Rechte des Volkes mitkämpfen." Frauen aus Weimar hatten ihren Text wirkungsvoll unter sich aufgeteilt.

Die Biersteuer debattieren, um die Kriegsschuld nicht anerkennen zu müssen

Amüsiert waren die Zuhörer, als die technische Moderne in die Debatte einzog: "Weltverkehr als Lebenslust" sollte in der Verfassung verankert werden. Wie absurd politische Verhandlungen sein können, zeigte - so kurz nach einer verheerenden Niederlage - die ausführliche Debatte um einen Antrag des damaligen Freistaates Sachsen-Weimar, aus der Biersteuergemeinschaft auszutreten. Man blieb, um den Siegermächten "deutsche Einigkeit" zu demonstrieren.Beklemmend wurde der Vortrag besonders, als es um die deutsche Kriegsschuld ging. Während die Siegermächte des Ersten Weltkriegs in Versailles den Friedensvertrag mit hohen Reparationszahlungen aufsetzten, argumentierten alle Parteien, von den ganz linken Kommunisten und den Unabhängigen Sozialdemokraten bis zur Deutschnationalen Volkspartei noch gegen eine alleinige deutsche Kriegsschuld. Da wurde der Abend erst recht zur Geschichtsstunde.

Der Politiker Gregor Gysi trug eine Rede über den Januaraufstand 1919 vorBild: Thomas Müller

Vergangenes ist gegenwärtig

Das heutige Publikum war begeistert, als Weimars Oberbürgermeister Peter Kleine die Dramaturgie des unkommentierten Zitats durchbrach und die Rede von Minister Franz Kreutz zu den Reichsfarben und den Grundrechten in der Verfassung in die Gegenwart verlängerte: "AfD, Pegida und Co. sind nicht die Bewahrer der Wahrheit, sondern die Hüter des Hasses." Diesen Holzhammer hätte es gar nicht gebraucht, um die Aktualität des Streits, wer die deutsche Flagge im Sinne des Volkes schwenken darf, zu verdeutlichen. Die "etwas andere Geschichtsstunde", so eine Publikumsstimme, nahm neben aller Begeisterung über den demokratischen Anfang auch das Ende der ersten parlamentarischen Demokratie in den Blick: Im ganzen Saal verteilt trugen Schüler, Laien und Schauspieler Reden der Nationalsozialisten und Auszüge aus den Ermächtigungsgesetzen vom März 1933 vor. Diesen vorgeführten Tod der Demokratie nahmen die Zuschauer als Warnung mit.

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