Welche Folgen hat ein IStGH-Haftbefehl gegen Netanjahu?
20. Mai 2024Die Regierung in Jerusalem muss mit Sorge Richtung Den Haag in den Niederlanden blicken. Dort hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) seinen Sitz. Und dessen Chefankläger Karim Khan hat nun sowohl gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu als auch gegen Israels Verteidigungsminister Joav Galant einen Haftbefehl beantragt. Der Grund sind mögliche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, für die die Politiker verantwortlich sein könnten.
Der Staatsanwalt beantragte außerdem Haftbefehle gegen den Gaza-Chef der radikal-islamischen Hamas, Jihia al-Sinwar, den Auslandschef Ismail Hanija sowie gegen Sinwars Stellvertreter Mohammed Deif im Zusammenhang mit den Terrorangriffen auf Israel am 7. Oktober 2023.
Welche Art von Strafverfahren könnte der IStGH gegen Netanjahu einleiten?
Der Internationale Strafgerichtshof ermittelt ausschließlich gegen Einzelpersonen. Er wird nur tätig, wenn eine Person im Verdacht steht, eines der vier Kernverbrechen verantwortet zu haben: Völkermord, schwere Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder einen Angriffskrieg.
Tatsächlich ermittelt der IStGH bereits seit 2021 wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen gegen mögliche Verantwortliche in Israel. Allerdings: Das Strafgericht ermittelt nach eigenen Angaben wegen desselben Vorwurfs auch gegen Kämpfer der Hamas. Außerdem laufen Untersuchungen zu Gewalttaten israelischer Siedler im Westjordanland.
Dabei sollen auch die jüngsten Entwicklungen im Israel-Hamas-Krieg berücksichtigt werden. Der hatte begonnen, nachdem die militant-islamistische Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel etwa 1200 Menschen getötet und mehr als 240 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt hatte. Die Hamas wird von zahlreichen westlichen Staaten, darunter den EU-Mitgliedsstaaten und den USA, als Terrororganisation eingestuft.
Jahja Sinwar, gegen den nun ein Haftbefehl beantragt wurde, gilt neben dem militärischen Hamas-Anführer Mohammed Deif und dem Chef des Hamas-Politbüros, Ismail Hanija, als Drahtzieher des beispiellosen Überfalls auf Israel.
Durch israelische Militäraktionen als Antwort auf den Anschlag sind nach Angaben der Hamas-geführten Behörden im Gazastreifen bislang mehr als 35.500 Menschen getötet worden. Diese Angaben lassen sich nicht unabhängig prüfen.
Wann darf der Internationale Strafgerichtshof ermitteln?
Grundsätzlich darf der IStGH nur dann tätig werden, wenn Staaten die oben genannten Verbrechen auf nationaler Ebene nicht verfolgen können oder wollen. Dass israelische Gerichte ein Strafverfahren gegen den Regierungschef, seine Minister oder die Armeeführung einleiten könnten, ist nicht zuletzt wegen des anhaltenden Krieges derzeit unwahrscheinlich.
Außerdem muss entweder der Heimatstaat des Täters das Gericht anerkennen - das tut Israel nicht - oder aber das Land, in dem die mutmaßlichen Verbrechen begangen wurden. Dies könnte hier zum Tragen kommen, denn die Palästinensischen Gebiete sind dem Vertrag über den IStGH beigetreten. Neben Israel erkennen auch die USA, China, Russland, Indien, fast alle arabischen Staaten sowie Iran den Internationalen Strafgerichtshof nicht an.
Ist keines der betroffenen Gebiete IStGH-Vertragspartner, kann nur der UN-Sicherheitsrat dem Gerichtshof per Resolution auftragen. Dies war beispielsweise im Falle Sudans und Libyens der Fall.
Welche Folgen hätte ein internationaler Haftbefehl für Israels Premierminister?
Bislang ist der Haftbefehl nur beantragt, noch nicht vom Gericht erlassen. Und selbst ein erlassener Haftbefehl ist noch kein Urteil. Er ist zunächst einmal ein Zeichen dafür, dass der IStGH erhobene Vorwürfe gegen eine verdächtige Person ernst genug nimmt, um ihnen nachzugehen.
Einen Haftbefehl erlässt der IStGH laut seiner Internetseite nur, wenn dies den Richtern notwendig erscheint, damit die betreffende Person überhaupt zur Verhandlung erscheint. Denn dies ist für ein IStGH-Verfahren notwendig. Andere Gründe können sein, dass die Richter befürchten, die Beschuldigten könnten das Verfahren behindern oder weitere Straftaten begehen.
Da der IStGH aber keine eigene Polizei hat, die die Verdächtigen festnehmen könnte, ist es sehr unwahrscheinlich, dass Mitglieder der israelischen Regierung tatsächlich in Den Haag vor Gericht stehen werden.
Allerdings würde ein Haftbefehl die internationale Bewegungsfreiheit Netanjahus und von Verteidigungsminister Galant stark einschränken - genauso wie die der Hamas-Führer. Denn alle 124 IStGH-Vertragspartner sind dazu verpflichtet, gesuchte Personen auf ihrem Staatsgebiet festzunehmen und an den Gerichtshof zu überstellen.
So bleibt etwa Wladimir Putin den meisten internationalen Treffen fern, seit das Gericht einen Haftbefehl gegen ihn wegen der Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland erlassen hat. Russlands Staatschef reist nur in Staaten, die den IGStH nicht anerkennen.
Was hat der mögliche Haftbefehl mit der Völkermordklage gegen Israel zu tun?
Die Ermittlungen des IStGH sind nicht zu verwechseln mit dem Vorwurf des Völkermords, den einige Staaten gegen Israel erhoben haben. Unter anderem Südafrika hat den Staat Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) wegen der vielen Kriegstoten im Gazastreifen verklagt. Der IGH hat seinen Sitz ebenfalls in Den Haag, ermittelt aber nicht gegen Einzelpersonen und erlässt keine Haftbefehle. Er ist ausschließlich für Streitigkeiten zwischen Staaten zuständig.
Ende Januar dieses Jahres hatte der IGH zwar die "Gefahr eines Völkermords im Gazastreifen" gesehen. Dem Eilantrag Südafrikas, dass Israel alle Kampfhandlungen einstellen soll, wurde aber nicht stattgegeben. Nach dieser ersten Entscheidung dürfte das Völkermord-Verfahren am IGH nun über Monate oder Jahre weiterlaufen.
Dieser Artikel erschien erstmals am 29. April 2024 und wurde am 20. Mai 2024 aktualisiert.