Ukraine-Krieg: Rolle der orthodoxen Kirchen
9. März 2022Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine treibt einen Keil in die orthodoxe Kirche. Während der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill in Moskau den Krieg rechtfertigt, wird er in den ukrainischen orthodoxen Kirchen verurteilt - sowie auch von einigen Priestern in Russland.
"Das Moskauer Patriarchat hat lange Zeit geschwiegen zum Krieg", erklärt Thomas Bremer im Videogespräch mit der DW. Er ist Professor für Ökumenik, Ostkirchenkunde und Friedensforschung an der Universität Münster. Doch das habe sich inzwischen geändert: Patriarch Kyrill stelle in seinen Predigten in Moskau Putins Krieg als einen legitimen Widerstand gegen westliche Werte dar. "Das macht er fest an Gay-Pride-Paraden", erläutert Bremer, "die man dem Donbass angeblich habe aufzwingen wollen".
Ganz auf Putins Linie und in Übereinstimmung mit den vom Präsidenten erlassenen Verbot, über den Krieg zu berichten oder ihn auch nur als solchen zu benennen, benutzte der Patriarch auch nicht das Wort "Krieg" für die Invasion der Ukraine, sondern sprach von "Ereignissen" und "militärischen Aktionen".
Religiöse Vielfalt in der Ukraine
Während in Russland einzig die russisch-orthodoxe Kirche von Belang ist, ist die Ukraine von religiöser Vielfalt geprägt. Das orthodoxe Christentum weist in der Ukraine eine bewegte Geschichte auf, insbesondere seit der ukrainischen Unabhängigkeit von der Sowjetunion im Jahr 1991.
Zurzeit existieren zwei orthodoxe Kirchen in der Ukraine: auf der einen Seite die eigenständige Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU), geführt vom Metropolit Epiphanius. Diese Kirche wurde von Bartholomäus I. in Istanbul anerkannt, den man als "Ehrenoberhaupt " der rund 260 Millionen orthodoxen Christen weltweit verstehen kann.
Auf der anderen Seite gibt es die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK), die eine autonome Kirche innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche darstellt und sich in der Vergangenheit nicht häufig politisch geäußert hat.
Wie verhalten sich die orthodoxen Kirchen in der Ukraine?
Die beiden orthodoxen Kirchen in der Ukraine würden den Krieg jeweils beim Namen nennen und nachdrücklich verurteilen, so Bremer im Gespräch mit der DW. Die OKU sowieso, das sei zu erwarten gewesen. Aber sogar der Patriarch der UOK, die immerhin ein Teil der russisch-orthodoxen Kirche ist, habe schon am ersten Tag des Krieges von einer "Invasion" der Ukraine gesprochen und Putin dazu aufgerufen, den Krieg zu beenden.
"Die Synode der ukrainisch-orthodoxen Kirche hat sogar den Patriarchen in Moskau dazu aufgerufen, seinen Einfluss auf Putin geltend zu machen und sich für den Frieden einzusetzen", bemerkt Bremer. "Das wurde in der Berichterstattung in Russland aber ausgelassen. Die Schrecken des Krieges sind dort überhaupt nicht sichtbar."
Kommt die Kirchenspaltung?
Dass der Moskauer Patriarch sich nicht für den Frieden einsetzt, habe dazu geführt, erzählt Bremer, dass viele Bischöfe der UOK in der Ukraine Anweisung gegeben haben, seinen Namen nicht mehr im Gebet zu nennen, wie sonst üblich. Sogar im Nordosten der Ukraine, an der russischen Grenze, sei das der Fall. "In der Kirche ist damit eine große Wegbewegung von Moskau zu erkennen", analysiert Bremer. Der Moskauer Patriarch habe das Vertrauen seiner Brüder in der Ukraine verloren - und damit auch viele praktizierende Gläubige im Land. Ungefähr 12.000 von 38.000 Gemeinden der russisch-orthodoxen Kirche befänden sich in der Ukraine und seien Teil der UOK, so Bremer - also fast ein Drittel.
Auch in der russisch-orthodoxen Kirche regt sich Widerstand
Anfang März veröffentlichten russisch-orthodoxe Kleriker und Priester einen offenen Brief, in dem sie ein Ende des Krieges fordern. Wörtlich heißt es in dem auf Russisch verfassten Schreiben: "Wir, die Priester und Diakone der Russisch-Orthodoxen Kirche, appellieren in eigenem Namen an alle, in deren Namen der Bruderkrieg in der Ukraine enden wird, und rufen zur Versöhnung und zu einem sofortigen Waffenstillstand auf."
Sie sprechen von dem "Leidensweg, dem unsere Brüder und Schwestern in der Ukraine unverdientermaßen ausgesetzt sind" und blicken bereits in die Zukunft: "Wir sind traurig, wenn wir an die Kluft denken, die unsere Kinder und Enkelkinder in Russland und der Ukraine überbrücken müssen, um wieder Freunde zu werden, sich gegenseitig zu respektieren und zu lieben." Inzwischen haben 286 Priester und Diakone den Brief unterschrieben (Stand: 08.03.2022).
Bremer würdigt im Gespräch mit der DW die Tapferkeit dieser Kleriker: "Das ist sehr mutig." Es sei zwar eine relativ kleine Gruppe - 286 Unterzeichner bei circa 36.000 Priestern in der russisch-orthodoxen Kirche. Doch diese seien nun Repressalien und Verfolgung durch die russischen Behörden und den Geheimdienst FSB ausgesetzt.
"Russisch-orthodox" als Religion und kulturelle Identität
Das Bekenntnis zur orthodoxen Kirche in Russland kann ebenso religiös wie kulturell gemeint sein. "Es gibt Menschen in Russland, die bezeichnen sich als orthodox, sagen aber gleichzeitig, sie glauben nicht an Gott", erläutert Bremer. "Das ist auch eine Identitätsfrage."
Das orthodoxe Christentum sei historisch eng mit Russland verknüpft, führt der Theologe aus, und Putin mache sich das zunutze. So habe er in einer Rede, in der er die "Militäraktionen" in der Ukraine rechtfertigte, sogar auf die religiöse Dimension Bezug genommen - und zwar, als er fälschlicherweise unter anderem davon sprach, dass Russisch-Orthodoxe in der Ukraine verfolgt würden.
Es ist ein Narrativ von Einheit, das beide orthodoxen Kirchen in der Ukraine - spätestens seit Ausbruch des Krieges - klar ablehnen. Welche Auswirkungen der Krieg auf die orthodoxen Kirchen haben werde, so Bremer, hänge von seinem weiteren Verlauf ab - und wer daraus als Sieger hervorginge. Sollte Russland die Ukraine einnehmen, würde das das Ende der eigenständigen Ukrainischen Orthodoxen Kirchen (UOK) bedeuten, prognostiziert er.
Viele Gläubige in der Ukraine, und vielleicht auch manche in Russland, hätte die russisch-orthodoxe Kirche aber schon jetzt verloren.