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Gesellschaft

Welt ohne Gestern

Carmen-Francesca Banciu
3. August 2019

Aufräumen, ausmisten, weggeben - Minimalismus ist in und für viele ein erster Schritt zu Ruhe und Harmonie. Doch Erinnerung braucht Hinterlassenschaft, meint Carmen-Francesca Banciu.

Deutscher Buchpreis 2018 Carmen-Francesca Banciu
Bild: Marijuana Gheorghiu

Seit Jahren nimmt der Trend zum Minimalismus zu. Ob noch am Anfang ihres erwachsenen Lebens oder kurz vor dem Ruhestand, wollen viele Menschen nachhaltig leben, alles Überflüssige wegschaffen, sich auf das Wesentliche reduzieren, konzentrieren. Es geht um eine philosophische, soziale, ethische Einstellung, die den bewussten Verzicht propagiert und die Selbstverantwortung im Umgang mit Ressourcen, mit dem Leben von Tieren, von anderen Menschen.

Minimalistisch leben: Sich befreien von sinnlosen Lasten um ein sinnvolles Leben zu führen. Die Lehre des Feng Shui, die die Harmonisierung des Menschen mit seiner Umgebung propagiert, empfiehlt regelmäßiges Ausmisten, um Chi, den Energiefluss, in Bewegung zu halten. Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen nach Entlastung, nach Harmonie und Muße dürsten. Orientierung suchen. Entrümpelung und Ordnung ist ein Versprechen, die Harmonie erreichbar zu machen. Das Leben leichter zu machen. Verzicht verspricht das Weiterbestehen der Menschen auf dem Planeten.

Verkleinern hat Konjunktur

Marie Kondos Aufräum-Ratgeber haben wie ein Blitz eingeschlagen. Inzwischen hat das Ordnungs-und-Entrümpelungsfieber Millionen Menschen gepackt. Und der Minimalismus ist ein erstrebenswertes Ziel geworden. Verzicht, die neue Tugend. Manche haben sich beeilt, die eigene Bibliothek zu entsorgen und vertrauen auf Wikipedia und auf den Speicher in der Cloud. Manche vertrauen auf die Akasha Chronik, die Palmblattbibliothek der indischen Tempel, auf das holographische Universum und den Zugang zu Information und unendlichem Wissen im Internet.

Manche haben ihre Fotos digitalisiert und die Kisten mit Familienfotos weggeschmissen. Ich besitze Fotos auf alten Handys, die in nur zehn Jahren verblasst aussehen, Texte, gespeichert auf Disketten und Floppy Disks, die unlesbar geworden sind.

Von allem zu viel: Entrümpeln der VergangenheitBild: picture alliance/dpa

Vor kurzem hat die Swisscom versehentlich Daten von tausenden von Menschen unwiederbringlich gelöscht, die dem Unternehmen zur Aufbewahrung anvertraut wurden. Diese Menschen haben nicht nur wichtige Dokumente für immer verloren, sondern auch persönliche Erinnerungen, die sie glaubten in einem unendlich großen Speicher sichergestellt zu haben.

Kann man von dem Verlust der Erinnerung, die Teil der Identität ist, jemals entschädigt werden? Und wie leben wir weiter ohne diese Erinnerungen? Wie leben unsere Kinder weiter ohne das Wissen darüber, wer wir waren? Bereiten wir uns vor für eine Zukunft ohne Erinnerung? Was wird man über uns erzählen? Was wird es noch über uns zu erzählen geben, wenn wir Briefe, Bilder, Gegenstände und viele kleine und scheinbar unbedeutende Spuren beseitigen? Vielleicht wird mehr Platz in der Welt dadurch geschaffen. Aber was für eine Welt wird dies sein?

Viele junge Menschen von heute leben in WGs mit wenig Raum für persönliche Erinnerungsspuren. Wer hat schon noch ein Elternhaus mit einem Dachboden in dem Enkel und Urenkel verstaubte Koffer und Truhen auspacken und wahre Schätze darin finden. Ob Gegenstände oder Dinge von ideellem Wert.

Papierfetzen für die Erinnerung

Als ich nach Deutschland gekommen bin, brachte ich nur ein Manuskript mit im Gepäck. Später konnten wir noch einige Fotos und kleine Gegenstände retten. Meine Kinder freuen sich über jeden Zettel, über jeden Fetzen, der sie an ihre Zeit in Rumänien erinnert, über ein Foto meiner Urgroßmutter. Über die kleine Tasche ihrer jung verstorbenen Großmutter. Das hat Großmutter angefasst, sagen sie. Die Tasche ist auch eine Erinnerung, die ich in einem Roman verwendet habe.

Als die Eltern des späteren englischen Dichters und Man Booker International Award Trägers George Szirtes in einer Nacht über die grüne Grenze aus Ungarn in den Westen fliehen, wird dem achtjährigen George die Verantwortung für ein Köfferchen anvertraut. Darin sind die Familienfotos. Die Flucht liegt viele Jahrzehnte zurück. Erst in diesem Jahr hat George ein bewegendes Memoire veröffentlicht, The Photographer at Sixteen, ein Buch, basierend auf den Familienfotos aus dem Köfferchen. Das Buch mit den Spuren der Erinnerung ist gerade auf dem Weg ein Bestseller zu werden.

Wie hätten viele Romane entstehen können, und wie arm wäre die Literaturgeschichte aber auch unser aller Leben, ohne die Spuren, die andere für uns hinterlassen haben. Und wie trocken, verarmt das Leben zukünftiger Generationen sein wird, wenn sie keine Kinozettel mehr finden werden von Urgroßvaters erstem Kinobesuch. Von Großmutters Tagebuch. Das ist alles sinnlose Nostalgie, Staubfänger, Platzfresser sagen die einen. Spuren meiner Vergangenheit. Spuren von mir. Ein Teil von mir. Ich. Wir. Sagen die anderen.

Flüchtlinge, die wahren Minimalisten

Entrümpeln, entlasten, befreien, loslassen, verzichten. Verzicht als Tugend, unter dem Vorwand der Notwendigkeit. Ist es wert in einer Welt zu leben, in der es keine Erinnerung, keine Bindung an die Vorahnen, keine persönliche Spuren der Vergangenheit mehr gibt? Und ist es denkbar, dass eines Tages der Ruf aufkommt, Bibliotheken zu vernichten, Museen zu entsorgen um Raum zu schaffen. Aber wohin dann mit dem ganzen Zeug? Wenn ich nicht mehr weiter weiß, erinnere ich mich an ein Gesetz der Physik, das ich in der Schule gelernt habe: Nichts geht verloren in der Natur, es verwandelt sich nur aus einer Form in eine andere.

Der neue Minimalismus: Klarheit, Übersicht, freier Raum - aber wenig ErinnerungBild: picture-alliance/dpa/Arcaid

Flüchtlinge sind wahre Minimalisten. Wer auf einem Schlauchboot das Meer überquert hat, besitzt selten einen persönlichen Gegenstand. Was einem bleibt, ist vielleicht die Hoffnung, dass man eines Tages in die alte Heimat zurückkehren kann, dass Krieg und Verwüstung nicht alle persönlichen Spuren der Vergangenheit zerstört und entsorgt hat. Niemand das Haus der Familie entrümpelt hat. Und man noch dort an seiner Geschichte neu anknüpfen kann. Erinnerung braucht man, um sie den Nachkommen zu hinterlassen. Man braucht sie aber auch für sich selbst, wenn man sein Leben von Null in der neuen Heimat einrichtet. Es hilft, sein altes Leben mitzubringen, und es zu integrieren am neuen Ort. Um seinen Platz in der neuen Heimat zu finden.

Carmen-Francesca Banciu, geboren in Rumänien, kam 1991 nach Berlin auf Einladung des Künstlerprogramms des DAAD. Seit 1992 lebt sie hier als freie Autorin, Publizistin, Mitherausgeberin und Dozentin für Kreativität-und kreatives Schreiben. Seit 1998 schreibt Sie hauptsächlich auf Deutsch. Banciu erhielt zahlreiche Preise und Stipendien. 

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