1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Zivilgesellschaft weltweit unter Druck

6. April 2022

Der neue "Atlas der Zivilgesellschaft" diagnostiziert einen besorgniserregenden Trend: Weltweit werden Freiheitsrechte eingeschränkt. Das Digitale wird immer wichtiger - auch beim Krieg in der Ukraine.

Belarus Polizeigewalt bei Festnahme
Wie hier in Belarus geht die Polizei in vielen Ländern gewaltsam gegen Demonstranten vorBild: TUT.by/AP/picture alliance

Wenn in diesen Tagen und Wochen Geflüchtete aus der Ukraine in Polen ankommen oder in deutschen Bahnhöfen aus dem Zug steigen, sind es oft freiwillige Helfer, die ihnen ein Brötchen und eine Flasche Wasser reichen, die eine Unterkunft besorgen, mit Übersetzungen helfen und mit der Bewältigung der neuen Situation. In der Krise zeigt sich die Stärke der Zivilgesellschaft. Staatliche Behörden allein wären mit der Versorgung der Ankommenden wohl überfordert.

Zivilgesellschaftliches Engagement kann vielerlei Gestalt annehmen: Umweltaktivismus ebenso wie Kampf für Frauen- und Gleichheitsrechte, indigene Gruppen schließen sich zusammen, Menschen setzen sich gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen ein, wollen ihre Sexualität frei leben, wehren sich gegen unterschiedliche Formen von Unterdrückung und vieles andere mehr. Längst nicht jeder Einsatz ist bei Regierungen so willkommen, wie der, wenn Bürger dem Staat bei der Versorgung von Geflüchteten helfen.

Das bekommen Menschen weltweit zu spüren. Silke Pfeiffer, Leiterin des Referats Menschenrechte und Frieden bei der Nichtregierungsorganisation Brot für die Welt, macht das gegenüber der DW mit einer Zahl deutlich. "Wir haben nur drei Prozent der Weltbevölkerung, die das Glück hat, in Ländern mit zivilgesellschaftlichen Handlungsräumen zu leben, die als offen bezeichnet werden können."

Nur drei Prozent der Menschen leben in offenen Gesellschaften

Von den knapp acht Milliarden Menschen auf der Erde sind das gerade mal 240 Millionen. Mehr als sieben Milliarden Menschen dagegen leben in Ländern, in denen Kritikerinnen und Kritiker drangsaliert, verfolgt, verhaftet, wo Grundrechte beschnitten werden.

Diese Zahlen stammen aus dem neuen Atlas der Zivilgesellschaft, den das evangelische Hilfswerk Brot für die Welt zum fünften Mal vorgestellt hat. Er bestätigt einen Trend, den kürzlich auch der Bertelsmann Transformationsindex und auch der Amnesty Jahresbericht konstatiert haben: Die Demokratie ist weltweit auf dem Rückzug, Menschen- und Bürgerrechte geraten in immer mehr Ländern unter Druck.

Wesentlicher Bestandteil des Atlas der Zivilgesellschaft ist der CIVICUS-Monitor. Die Nichtregierungsorganisation CIVICUS mit Sitz im südafrikanischen Johannesburg wertet laufend Berichte von Partnerorganisationen aus aller Welt und öffentliche Quellen aus. Auf dieser Datenbasis werden die Länder weltweit in fünf Kategorien von offen bis geschlossen eingeteilt. Im Vergleich zum letzten Bericht hat sich nur ein einziges Land verbessert: Der Status der Mongolei wurde von "beschränkt" auf "beeinträchtigt" hochgestuft.

Rückschritte auch in Europa

Gleichzeitig stiegen 14 Länder ab, darunter auch zwei Mitgliedsstaaten der Europäischen Union: Tschechien und Belgien verschlechterten sich von "offen" auf "beeinträchtigt". "Im Fall Belgiens ist das zurückzuführen auf das harte Vorgehen der Polizei gegen friedliche Versammlungen Ende 2020, Anfang 2021", erklärt Silke Pfeiffer. "Da wurde bei Protesten gegen Diskriminierung und soziale Ungleichheit übermäßige Gewalt eingesetzt, sogar scharfe Munition: Es gab Hunderte Festnahmen, auch von Minderjährigen", führt die Menschenrechtsexpertin von Brot für die Welt aus.

Hat die Menschrechte weltweit im Blick: Silke Pfeiffer von Brot für die WeltBild: Hermann Bredehorst/Brot für die Welt

In Belarus wie auch in Nicaragua diagnostiziert der CIVICUS-Monitor eine solche Verschlechterung der Situation, dass beide Länder in die schlechteste Kategorie "geschlossen" abrutschten. Dort finden sie sich in Gesellschaft von 23 weiteren Staaten wie etwa Nordkorea, China oder Saudi-Arabien.

"Eine Zivilgesellschaft gibt es überall", stellt Rupert Graf Strachwitz gegenüber der DW klar. "Auch in China, nach allem, was wir wissen und zum Teil auch ahnen können, sogar in einem Land wie Nordkorea und selbstverständlich auch in Russland - aber natürlich unter sehr unterschiedlichen Voraussetzungen", sagt der Zivilgesellschaftsexperte des Maecenata-Instituts.

Exodus aus Russland

In Russland - eingestuft in der zweitschlechtesten Kategorie "unterdrückt" - hatte sich die Situation schon in den letzten Jahren fortlaufend verschlechtert. "Das hat sich seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine noch einmal verschärft", hat Silke Pfeiffer beobachtet. "Leute, die auf die Straße gehen, werden massenhaft verhaftet, Medien werden geschlossen, über bestimmte Dinge darf gar nicht mehr berichtet werden. Ganz wichtige Stimmen sind jetzt gezwungen, ins Ausland zu gehen."

So wie Angelina Davydova. Seit Ende März ist die Journalistin, Expertin für Zivilgesellschaft und Umweltaktivistin in Berlin. Über Istanbul hat sie Russland verlassen, wie so viele andere auch. Im DW-Interview spricht sie über ihre Gefühle: "Ich glaube, wir haben etwas erreicht, wir haben Ergebnisse gesehen in der Art und Weise, wie sich die Gesellschaft verändert hat. Aber jetzt habe ich das Gefühl, dass vieles davon durch die Ereignisse des letzten Monats zerstört wurde. Vieles von dem, was ich getan habe, aber auch viele meiner Werte und alles andere sind einfach zusammengebrochen".

Hat Russland verlassen und lebt jetzt in Berlin: Umweltaktivistin Angelina DavydovaBild: privat

Davydova beschreibt den wachsenden Druck, dem die Zivilgesellschaft in den letzten Jahren ausgesetzt war, die Repression gegen Aktivisten. Und spricht vom "riesigen Schock", den das Verbot der Menschenrechtsorganisation Memorial Ende letzten Jahres ausgelöst hat. Weil es ein Zeichen war, dass ihre Arbeit "vom Staat als feindlich wahrgenommen wird". Memorial war noch zu Sowjetzeiten gegründet und 2004 mit dem Alternativen Nobelpreis geehrt worden.

Trotz wachsender Schwierigkeiten hätten sich viele Aktivisten ganz bewusst zum Bleiben entschieden, sagt Davydova. Sie wünscht sich, dass der Westen weiter im Dialog mit der russischen Zivilgesellschaft bleibt. Man dürfe auf keinen Fall vergessen, "dass es auch in Russland Leute gibt, die anders denken und zivilgesellschaftliche Initiativen, die wichtig sind", erinnert die Journalistin.

Vernetzung und Falschinformationen

Einen eigenen Schwerpunkt legt der Atlas der Zivilgesellschaft auf das Thema Digitalisierung. Für Graf Strachwitz steht fest, dass die Zivilgesellschaft stark von der Digitalisierung profitiert. "Die Möglichkeit, Informationen zu verbreiten, ohne einen 'Gatekeeper' dazwischen zu haben, war einer der Gründe, warum die Zivilgesellschaft sich in den letzten 30 Jahren so stark hat entwickeln können", sagt der Zivilgesellschaftsforscher.

Rupert Graf Strachwitz beobachtet seit Jahrzehnten die Entwicklung von ZivilgesellschaftenBild: privat

Wie mächtig digitale Medien sind, lässt sich auch daran ablesen, wie stark besonders autoritäre Regime technisch aufrüsten. Das Ziel: Die neuen Spielräume in digitalen Räumen wieder einzuengen.
Im Atlas kann man nachlesen, dass eine besonders drastische Maßnahme immer häufiger ergriffen wird: Das Internet wird komplett abgeschaltet - in Tansania beispielsweise im letzten Jahr mehrere Tage vor den Präsidentschaftswahlen. Oder in Indien, das sich selbst gerne als "größte Demokratie der Welt" bezeichnet: Da wurde vergangenes Jahr in verschiedenen Regionen des Landes dem Informationsstrom über 100 Mal der Stecker gezogen.

Zu den Schattenseiten der Digitalisierung zählen auch die Verbreitung von Fehlinformationen und Hate Speech. Der Atlas verdeutlicht das am Beispiel der Ukraine. Schon vor dem Beginn der russischen Invasion, führt der Atlas aus, habe Russland in dem Konflikt Lügen massenhaft als Waffe verwendet.

Das Recht auf Information sei aber ein grundlegendes Menschenrecht und zugleich wesentliche Voraussetzung für eine funktionierende Zivilgesellschaft, erläutert Silke Pfeiffer: "Wenn dieses Recht beschnitten wird dadurch, dass Falschmeldungen verbreitet werden, dann bricht eine zentrale Grundlage für zivilgesellschaftliches Engagement weg".