Weltweite Armut oder: Wie arm ist arm?
23. Oktober 2023Ein Brot oder eine Packung Eier oder eine Packung Kaugummis - für rund zwei Euro kann man in Deutschland nicht viel kaufen. Eine Fahrt im öffentlichen Nahverkehr kostet in der Regel mehr. Eine Packung Tampons auch.
Etwa zwei Euro oder 2,15 US-Dollar - wer weniger Geld am Tag zur Verfügung hat, gilt laut der Weltbank als extrem arm.
Seitdem die Weltbank im Jahr 1990 begonnen hat, weltweit Daten zur Armut zu sammeln, ist die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, deutlich gesunken. 1990 lebten noch rund zwei Milliarden Menschen in extremer Armut, 2019 waren es 648 Millionen. Die Corona-Pandemie ab 2020 hat dann zu einem Rückschlag geführt. Weltweit stieg die Zahl der extrem armen Menschen um rund 70 Millionen an.
Inzwischen sieht es wieder besser aus. 2023 würden etwa 690 Millionen Menschen in extremer Armut leben, das sei wieder in die Nähe des Levels vor der Pandemie, heißt es in einem Blog der Weltbank. Es habe drei Jahre gedauert, bis wieder ein ähnliches Armutsniveau wie vor der Pandemie erreicht worden sei. Mit anderen Worten: Die Welt hat drei Jahre im Kampf gegen die Armut verloren.
Wo es gut läuft und wo nicht nach der Pandemie
Die Entwicklung verläuft nach dem Motto: Wer hat, dem wird gegeben. In Ländern mit hohem und mittlerem Einkommen ging die Armut dank umfangreicher Sozialhilfeprogramme schon 2020 zurück. Länder mit niedrigem bis mittlerem Einkommen konnten bis 2022 zu den Armutsquoten von vor der Pandemie zurückkehren.
Schlecht sieht es dagegen aus in Ländern mit geringem Einkommen und in solchen, die durch Konflikte, Gewalt oder Instabilität gezeichnet sind. Hier liegen die Armutsquoten noch immer über dem Niveau vor der Pandemie. Die extreme Armut nimmt in einigen dieser Länder sogar zu.
Erfolge vor allem in China und Indien
Tatsächlich sei die Armut seit 1990 weltweit zurückgegangen, allerdings nicht in allen Weltregionen, sagt Sebastian Vollmer von der Universität Göttingen. Der Rückgang sei zum großen Teil den Zahlen aus China und Indien zu verdanken. "Da China so ein bevölkerungsreiches Land ist, hat das einen unheimlichen Einfluss auf die Armutszahlen der Weltbank", so der Professor für Entwicklungsökonomie.
"Die Chinesen haben wirklich Riesenfortschritte gemacht", sagt auch Rainer Thiele vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel. Von 1990 bis 2015 habe China die extreme Armut im Land von 60 Prozent auf sechs Prozent reduzieren können. In anderen asiatischen Länden habe es ebenfalls große Erfolge im Kampf gegen extreme Armut gegeben.
Anders sieht es in Afrika aus. Zwischen 1990 und 2019 sei die extreme Armut in Afrika zwar von 50 Prozent auf 23 Prozent zurückgegangen, so Thiele. "Aber wegen des Wachstums der Bevölkerung heißt das immer noch, dass jetzt in absoluten Zahlen mehr Arme in Afrika leben als 1990." Besonders schlecht ist die Lage in vielen Ländern südlich der Sahara.
Wie genau sind die Daten?
Allerdings gibt es einige Zweifel an der Aussagekraft der Armutsdaten. Die Weltbank selbst teilt mit, die aktuellen Zahlen seien mit einer gewissen Unsicherheit behaftet, da viele Länder während der Pandemie keine Daten erhoben hätten. Die Weltbank erhält die Daten von den statistischen Ämtern in den Ländern, die die Information zusammentragen. Dafür werden die Menschen in einer repräsentativen Stichprobe von Haushalten nach ihrem Einkommen und Verbrauch befragt und anschließend werden auf dieser Basis die Armutszahlen geschätzt.
Methodisch sei der Ansatz völlig in Ordnung, meint Thiele. "Die Weltbank hat gute Standards dazu entwickelt. Aber wie die letztlich in den Ländern umgesetzt werden, ist manchmal ein bisschen zweifelhaft." Das gilt besonders in Ländern, die fragil sind und in denen die Regierung nicht viele Kapazitäten hat. Probleme ergeben sich auch, wenn beispielsweise in ländlichen Haushalten Analphabeten nach ihren Einkommen und Ausgaben in den letzten 12 Monaten gefragt werden. "Haushalte, die Selbstversorger sind, haben oft gar nicht das Wissen, wie viel das wert ist, was sie produziert haben", so Thiele.
In China würden die Zahlen unter Umständen auch ein bisschen strategisch verwendet, gibt Thiele zu bedenken. Der Sinologe Hans Kühner von der Universität München wird deutlicher. "Die Daten sind nicht überprüfbar und stammen aus der offiziellen chinesischen Statistik. Inwiefern man denen trauen kann, ist bekanntlich fragwürdig." Bei Befragungen in China würde immer auch ein impliziter politischer Druck existieren. "Diejenigen, die befragt werden, nehmen bei der Antwort vorweg, was die offiziellen Stellen eigentlich hören wollen." Und dann sei da noch die Frage, ob die Daten nachträglich korrigiert oder geschönt wurden, so Kühner. "Das ist anzunehmen."
Nicht extrem arm, aber immer noch sehr arm
Die Erfolge im Kampf gegen extreme Armut relativieren sich weiter, weil in China und Indien zwar viele Menschen über die Armutsgrenze von 2,15 US Dollar gekommen seien, "aber die sind natürlich trotzdem aus unserer Sicht immer noch arm", so Thiele vom IfW.
Viele Leute hätten inzwischen vielleicht drei oder vier Dollar zum Leben, das sei aber immer noch als Armut zu bezeichnen. Setze man aber einen höheren Betrag an, den ein Mensch haben muss, um nicht als arm zu gelten, würden die Erfolge in China nicht mehr so spektakulär aussehen, meint Thiele.
Überleben ist mehr als ein Kalorienmindestmaß
Kritik gibt es auch an der Definition von extremer Armut. Sebastian Vollmer sagt, viele Teile Chinas seien inzwischen so weit entwickelt, dass ein kaufkraftbereinigter Betrag von 2,15 US-Dollar pro Tag dort nicht mehr zum Überleben reiche. Und selbst wenn er reichen sollte, gehe es um mehr als die Sicherung des nackten Überlebens. Grundlage für das Armutsmaß der Weltbank von 2,15 US-Dollar sei die Annahme, dass ein Mensch täglich 2100 Kalorien brauche, erklärt Vollmer. "Das ist hoch problematisch. Menschen können allein mit dieser Kalorienzufuhr nicht leben."
Vollmers Team an der Uni Göttingen hat kürzlich berechnet, wie groß die Armut wäre, wenn davon ausgegangen wird, dass die Ernährung nicht nur ein Mindestkalorienmaß haben muss, sondern auch gesund ist, also ausreichend Nährstoffe beinhaltet, so der Entwicklungsökonom. "Nach dieser Methode ergibt sich, dass sehr viel mehr Menschen in Armut leben als nach der Methode der Weltbank," so Vollmer.
Dazu passen die schlechten Nachrichten der Vereinten Nationen vom Juli dieses Jahres: Die Zahl der hungernden Menschen auf der Welt steigt. Rund 735 Millionen Menschen, fast ein Zehntel der Weltbevölkerung, hatten 2022 zu wenig zu essen, heißt es im Welternährungsbericht der Vereinten Nationen. Ihnen mangelt es an Kalorien und wichtigen Nährstoffen.
Sustainable Development Ziel noch erreichbar?
"Die Armut wird weiter sinken", sagt Thiele, "wenn wir nicht die nächste Pandemie bekommen". Aber sie werde langsamer sinken als vorher. "Die Armut bis 2030 zu eliminieren auf Null - das wird nicht erreicht werden", ist der IfW-Forscher überzeugt.
Das liege auch daran, dass für arme Menschen in fragilen Ländern nur schwer Maßnahmen ergriffen werden könnten, um sie auf ein höheres Wohlstandsniveau zu bringen. "Einfach durch Wirtschaftswachstum werden die Menschen, die beispielsweise in Bürgerkriegsregionen leben, nicht aus der Armut kommen", so Thiele.
"Sollten die derzeitigen Trends anhalten, werden bis 2030 schätzungsweise sieben Prozent der Weltbevölkerung - etwa 575 Millionen Menschen - in extremer Armut leben", heißt es im aktuellen Entwicklungsbericht der Vereinten Nationen. Die meisten dieser Armen würden in Afrika südlich der Sahara leben. "Diese Prognose entspräche einem Rückgang der Armut um gerade einmal 30 Prozent", so der Bericht.