Wen Migranten in Deutschland wählen
24. Januar 2025
Nur noch bis zum 23. Februar bleibt den Parteien in diesem kurzen Bundestagswahlkampf, Wählerinnen und Wähler von ihren Programmen zu überzeugen. Bei einer Gruppe ließe sich noch sehr viel Boden gut machen, und sie ist alles andere als klein: 7,1 Millionen Wahlberechtigte haben eine Zuwanderungsgeschichte, sie selbst oder beide Eltern sind also zugewandert. Etwa jeder achte Wähler in Deutschland also.
Eine Gruppe, die seltener bei Bundestagswahlen ihre Stimme abgibt als Menschen ohne Migrationshintergrund. Und die nicht mehr so festgelegt auf eine bestimmte Partei ist wie früher, sagt die Soziologin Friederike Römer der DW:
"Die Partei mit dem höchsten Potenzial ist in allen untersuchten Gruppen die SPD. Etwa 20 Prozent der Wählerinnen und Wähler mit Migrationshintergrund können sich vorstellen, die AfD zu wählen. Wenn wir aber Menschen mit Migrationshintergrund fragen, welchen Parteien sie Lösungskompetenzen zusprechen, sagen diese häufiger als Menschen ohne Migrationshintergrund, keiner Partei."
Römer arbeitet für das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung DeZIM und hat als Co-Autorin für das Institut an einer Studie mitgearbeitet, welche die Alltagssorgen und Parteipräferenzen von Menschen mit Migrationshintergrund untersucht. Ein weiterer Trend: Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und die Linke bekommen von dieser Gruppe höhere Zustimmungswerte, die Grünen schneiden dagegen schlechter ab.
Materielle Sorgen bei Menschen mit Einwanderungsgeschichte höher
Auch bei den Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund stehen demnach die Themen Wirtschaft und Inflation ganz oben auf der Agenda. "Bei materiellen Sorgen, Problemen der Altersvorsorge oder auch der Wohnsituation geben Menschen mit Migrationshintergrund häufiger an, sich große Sorgen zu machen als Menschen ohne Migrationshintergrund", sagt Römer.
Sie fügt hinzu: "Wir sehen auch, dass sich Menschen mit Migrationshintergrund häufiger Sorgen machen, Opfer einer Straftat zu werden." Diese Ängste befeuert die in Teilen rechtsextreme AfD, die zwar einen ausländerfeindlichen Wahlkampf führt und gegen Migrantinnen und Migranten Stimmung macht, gleichzeitig aber neue Wählergruppen erschließen will. Bei einigen Menschen mit Einwanderungsgeschichte kann das durchaus erfolgreich sein, beobachtet die Soziologin:
"Sie ist sehr gut darin, bestimmte Subgruppen mit Migrationshintergrund anzusprechen und für ihre Politik zu begeistern. Schon länger in Deutschland lebenden Migranten, gerade aus der MENA-Region (Nahost und Nordafrika, die Red.) oder der Türkei, macht sie ein Angebot in die Richtung: Ihr seid nicht das Problem, die Neuen sind das Problem. Das verfängt gerade in den sozialen Medien."
Niedrige Wahlbeteiligung bei den Türkeistämmigen
Türkeistämmige mit einer islamkritischen Haltung, mit einer relativ hohen Assimiliationsrate oder mit einer jahrzehntelangen Migrationsgeschichte, die Neuankömmlinge als Konkurrenten wahrnehmen - Yunus Ulusoy zählt die Menschen auf, bei denen die AfD-Strategie von Erfolg gekrönt sein könnte. Der Programmleiter bei der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) in Essen sagt der DW:
"Aber ich halte diese Gruppe eher für marginal. Denn wenn ich mir Aussagen der AfD in Bezug auf Migration und den Islam anhöre, kann ich mir nicht vorstellen, dass die Partei in der türkeistämmigen Community aktuell signifikant Zuspruch bekommen könnte."
In der Vergangenheit machten die eingebürgerten Türken häufig ihr Kreuz bei der SPD. Zwar stehen die Sozialdemokraten noch immer bei ihnen hoch im Kurs, die Bindung an die Partei hat aber zuletzt abgenommen. Stattdessen neigen immer mehr Türkeistämmige dazu, gar nicht zur Wahl zu gehen, ihre Wahlbeteiligung ist im Vergleich zu anderen Migrantengruppen niedrig. Ulusoy kennt die Gründe:
"Es gibt eine große Gruppe von jungen Leuten, die im Alltag aufgrund von Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen das Gefühl vermittelt bekommt, nicht komplett dazuzugehören. Dieses Gefühl führt zur Verletzung, und diese Verletzungen können dazu führen, dass sich die jungen Menschen politisch abwenden und gar nicht zur Wahl gehen."
Die Politik fokussiere sich zu sehr auf vermeintliche Defizite und Probleme mit der türkischen Community statt über positive Entwicklungen zu sprechen und ein Gefühl der Akzeptanz zu vermitteln, kritisiert Yunus Ulusoy.
Hohe Affinität der Spätaussiedler zur AfD
Eine weitere große Gruppe unter den Menschen mit Einwanderungsgeschichte kennt dieses Empfinden, doch nicht dazuzugehören, nur zu gut: die Spätaussiedler, Migrantinnen und Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion. Mit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 hätten sich vor allem viele Russlanddeutsche als Außenseiter gefühlt, sagt Jannis Panagiotidis. Nutznießer sei die AfD, die sich schon früh um diese Wählergruppe bemüht habe, erklärt der Historiker der DW:
"Die AfD versucht am offensivsten, sich als die Partei der Russlanddeutschen in Szene zu setzen." Mit autoritären Versprechungen, mit einer Law and Order-Politik und einer migrationskritischen Haltung, die für einen Teil dieser Klientel ziemlich wichtig sei. "Weil man aus dem Gefühl der eigenen Unsicherheit heraus gegen Zuwanderung ist, insbesondere gegen die aus islamischen Ländern."
Studien zufolge ist das Thema Einwanderung für Migrantinnen und Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion besonders wichtig. Mit der Skepsis gegen die Einwanderungspolitik von Angela Merkel begann auch die Unterstützung für die Union zu bröckeln, die von dieser Gruppe traditionell überproportional gewählt wurde.
CDU und CSU hätten zwar wieder vor der Bundestagswahl damit begonnen, aktiv diese Klientel zu umwerben, gerade mit dem für die älteren Spätaussiedler wichtigen Thema Rente. Doch von der jüngsten politischen Entwicklung profitiere neben der AfD vor allem das Bündnis Sahra Wagenknecht, sagt Panagiotidis, wissenschaftlicher Direktor des Forschungszentrums für die Geschichte der Transformationen an der Universität Wien.
"Früher wählten viele der postsowjetischen Community auch die Linkspartei. Ein Großteil dieser Wählerinnen und Wähler ist zum Bündnis Sahra Wagenknecht übergelaufen. Das BSW hat, sollte die Partei in Zukunft weiter existieren, das Potenzial, nicht nur bei der postsowjetischen migrantischen Klientel sehr erfolgreich zu sein. Weil es sich nicht rechtsextrem positioniert, was migrantische Wählerinnen und Wähler abschrecken könnte."