Wenn der Schmerz zur Krankheit wird
16. Juli 2015 DW: Wann ist eigentlich ein Schmerz chronisch und wann spricht man von einem "Chronischen Schmerzsyndrom"?
Dr. Andreas Kopf: Alles was länger als drei bis sechs Monate andauert ist per Definition chronisch, beschreibt aber nicht das eigentliche Problem. Es gibt viele Menschen, die haben Rheuma oder eine Tumorerkrankung und haben schon seit einem Dreivierteljahr Schmerzen, aber können normal am Leben teilhaben.„Chronifiziert“ im Sinne einer Schmerzkrankheit heißt, dass der Schmerz das ganze Erleben so beeinträchtigt, dass er ins Zentrum des Lebens rückt, den Alltag also nachhaltig beeinträchtigt. Dafür sind sog. Bio-psycho-sozial-spirituelle Risikofaktoren verantwortlich. Das heißt, es gibt nicht nur körperliche Veränderungen sondern zusätzlich psychische Probleme wie eine Angststörung, Depressionen oder eine Traumatisierung, sowie Konflikte beispielsweise am Arbeitsplatz oder in der Familie. Umso mehr, wenn Faktoren aus diesen verschiedenen Bereichen zusammen kommen, umso höher ist das Risiko für die Entwicklung einer Schmerzkrankheit, für einen „chronifizierten“ Schmerz.
Wie äußert sich die Schmerzkrankheit?
Der Patient bewertet seinen Schmerz als unerträglich. Anders als bei einem akuten Schmerz, z.B. nach einer Operation, wo man schnell und ausreichend mit Schmerzmitteln helfen kann, leiden Schmerzpatienten bisweilen jahrelang an hohen und unerträglichen Schmerzstärken. Und zwar immer. Wenn man fragt, wann der letzte schmerzfreie Tag war, dann liegt der meist Jahre zurück. Darüber hinaus ist dieser Schmerz nicht moduliert, d.h. er hat immer dieselbe Stärke. Schmerzpatienten beschreiben ihn oft als „mörderisch“ oder „unerträglich“. Ein Schmerz, der sie regelrecht bedroht.
DW: Warum dauert es oft so lange, bis die Diagnose "Chronisches Schmerzsyndrom" gestellt ist?
Die Krankheit entsteht nicht von einem Tag auf den anderen. Und es kann sein, dass am Anfang auch Dinge übersehen werden. Der Patient selbst und verschiedene Ärzte sind dann auf der Suche und es dauert lange, bis dann die Schmerzkrankheit als Ursache der anhaltenden Schmerzen erkannt wird. Wenn verschiedene Ärzte aufgesucht werden, vergeht auch schnell mal ein halbes bis einem Jahr, und dann ist so ein Chronifizierungsprozess nur noch schwer umkehrbar. Es gibt viele Patienten, bei denen das zu spät erkannt wird. Was wir uns wünschen ist, dass jeder Arzt so ein Alarmlämpchen hat, wo er sagt, wie der Patient seinen Schmerz beschreibt, das ist kein normaler Schmerz, den lass ich jetzt von einem Spezialisten untersuchen. Deshalb haben wir in Deutschland auch die Schmerzmedizin als Pflichtfach in die Lehre eingeführt. Das zweite Land neben Frankreich weltweit, wo es das gibt. Damit jeder Arzt so ein Basiswissen hat um Schmerzpatienten zu erkennen, bevor der Schmerz chronifiziert.
Wie sieht eine Therapie im besten Fall aus?
Wenn der Schmerz bio-sozial-spirituell ist, muss die Behandlung auch dementsprechend sein. Und das nennt man multimodal. Wir wissen heute, dass Schmerzpatienten keine „eingebildeten Kranken“ sind, sondern dass tatsächlich Veränderungen im Großhirn und im Nervensystem nachweisbar sind, die erklären, warum sie so starke Schmerzen haben. Und auch, dass Schmerzmittel alleine nicht reichen, sondern es eine Kombination aus verschieden Behandlungen wie einer speziellen Physiotherapie, körperorientierter Therapie, Entspannungsverfahren und einer Verhaltenstherapie sein muss. Therapien, bei denen der Patient lernt, wieder ein anderes Verständnis von seinem Körper zu entwickeln. Er soll seinen Körper wieder spüren, so wie es eigentlich sein müsste, ohne Schmerzen. Und Schmerzmittel alleine helfen da nicht, können allenfalls unterstützen.
Was kann der Patient selber tun?
Leider muss er fast alles selber tun. Bei der Therapie einer Schmerzkrankheit ist es so, dass der Patient nur beraten wird von Psychologen, Physiotherapeuten und Ärzten und dann muss er das selbst üben. Deswegen heißt die Therapie auch Schmerzbewältigungstraining, der Patient braucht eine hohe Motivation, wir nennen das Veränderungsmotivation. Und das ist eine ziemliche Zumutung für den Patienten. Wenn man dann nicht das Ziel ausgibt, zu hundert Prozent beschwerdefrei zu werden, schaffen aber doch viele, den Schmerz nicht mehr als Mittelpunkt des Lebens zu empfinden und wieder ins Leben zurückzukehren. Der deutsche Schriftsteller Hermann Hesse, selbst Schmerzpatient gewesen, beschreibt diesen Prozess sehr gut in seinem Roman "Der Kurgast". Ein Prozess, bei dem sein Schmerz seinen Platz irgendwo im Leben gefunden hat und er sich wieder anderen Dingen zuwenden konnte.
Dr . med. Andreas Kopf ist Leiter des Benjamin Franklin Schmerz- und Palliativzentrums der Charité-Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin, in Berlin.
Das Interview führte Marita Brinkmann