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Wenn die Erinnerung an den Holocaust zum "Monster" wird

Sarah Judith Hofmann
23. Juni 2019

Yishai Sarid übt in seinem neuen Roman Kritik an der israelischen und an der deutschen Erinnerungskultur. Im DW-Interview spricht er über Auschwitz und die Pornographie des Bösen.

Holocaus Gedenken l „Marsch der Lebenden“ in Ausschwitz
Bild: picture alliance/dpa/ZUMA/D. Klamka

DW: Ihr Buch heißt in der deutschen Übersetzung "Monster". Wörtlich aus dem hebräischen Original übersetzt, wäre der Titel sogar "Erinnerungsmonster". Inwiefern ist die Erinnerung an den Holocaust ein Monster?

Yishai Sarid: Die Geschichte des Holocaust ist nichts, was einfach verschwindet. Bis heute hat sie einen großen Einfluss auf jüdisches Leben und auf Israel, sowohl als persönliches Familientrauma als auch auf institutioneller Ebene. Emotionen wie Hass und Feindseligkeiten, die daraus erwachsen, gehen in alle möglichen Richtungen - so wie bei einem Monster, das man nicht kontrollieren kann.

Der Protagonist Ihres Buchs ist Historiker, der in Israels nationaler Holocaust-Gedenkstätte arbeitet. Im Namen von Yad Vashem begleitet er israelische Reisegruppen nach Polen und führt sie durch die Vernichtungslager der Nazis, wie Auschwitz, Majdanek und Treblinka. Dabei wird er von der kaltblütigen Planung der Nazis, der Ermordung von sechs Millionen Juden, in seinen Gedanken förmlich aufgefressen. Mal stellt er sich vor, er sei einer der Täter, dann wieder sieht er, wie ihn die Augen der Opfer anblicken. Was machen diese Orte mit ihm?

Der Holocaust wird sein persönliches Monster. Jeden Tag durchlebt er diesen Vernichtungsprozess wieder und wieder. Er wird obsessiv, süchtig nach dieser dunklen Faszination. Es ist beinah wie Pornographie. Das Böse hat eine Attraktivität.

Die "Hall of Names" in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in JerusalemBild: picture-alliance/Dumont/E. Wirba

Es ist kein Wunder, dass Biographien von Nazis überall auf der Welt veröffentlicht werden: Wir sind fasziniert von ihren Taten. Mein Protagonist sucht nach der Bedeutung in all dem und beginnt sich zu fragen, an wen wir uns erinnern. Wir erinnern uns an die deutschen Täter, denn sie blieben am Leben und sie vollzogen die Taten, sie waren der aktive Teil. Das ist nicht fair. Die Protagonisten sollten die Opfer sein, nicht die Täter.

Also sucht er nach Überlebenden, so wie in der Realität viele Journalisten und Historiker. Heutzutage wollen viele mit den letzten Zeitzeugen sprechen. Muten wir diesen alten und traumatisierten Menschen zu viel zu?

Es ist wichtig, den Überlebenden zuzuhören und ihre Zeitzeugenberichte zu dokumentieren, denn bald werden sie nicht mehr unter uns sein. Aber für viele von ihnen ist das sehr schwierig. In meinem Buch findet der Protagonist schließlich einen Überlebenden und überzeugt ihn, die Gruppe zu begleiten, indem er ihn zuerst in seine Geburtsstadt in Polen bringt und dann nach Auschwitz, wo er gefangen war. Aber das ist zu viel für diesen alten Mann. Er kollabiert.

Jedes Jahr an Yom HaShoah , am israelischen Holocaust-Gedenktag, ertönt in ganz Israel eine Sirene und lässt die Menschen für eine Minute innehalten und der Opfer gedenken. Was bedeutet Erinnerungskultur in Israel?

Darum geht es in meinem Buch: Die Lehre, die wir aus dem Holocaust ziehen und wie institutionell mit der Erinnerung umgegangen wird, ist sehr problematisch. In erster Linie wird die Lehre gezogen, dass das jüdische Volk stark sein und sich selbst verteidigen können muss, was - nach allem, was passiert ist - durchaus eine gute Lehre für das jüdische Volk ist. Das will ich nicht unterschätzen.

Yad Vashem: Gedenkveranstaltung zum jährlichen "Holocaust-Gedenktag" in IsraelBild: Reuters/R. Zvulun

Aber schauen wir auf Yad Vashem. Der Holocaust ist in erster Linie eine jüdische Tragödie, aber es ist auch eine Tragödie für die gesamte Menschheit. Sie lehren die jungen Menschen aber nicht die universelle Lehre aus dem Holocaust: Was würdest du tun, wenn du dich in einer solchen Situation wiederfändest? Wie können wir sicherstellen, dass so etwas nie wieder und nirgends geschieht?

Wie sollte stattdessen an den Holocaust erinnert werden?

In erster Linie ist es wichtig, die Fakten zu kennen. Das ist die Basis für alles. Wenn man beginnt die Fakten zu verdrehen, wird es gefährlich. Deshalb wollte ich auch keine Erzählung über den Holocaust erfinden. "Monster" ist ein dünnes Buch, aber darin enthalten sind viele historische Fakten und alle sind korrekt. Die Geschichte, die ich erfunden habe, spielt im Heute. Ich glaube, es ist wichtig, dass Künstler sich mit dem Holocaust beschäftigen. Die Fakten müssen stimmen, aber die Lehren, die man daraus zieht, dürfen nicht allein in der Hand einiger wenigen Institutionen liegen.

Besucher in der Dauerausstellung der KZ-Gedenkstätte Auschwitz-BirkenauBild: picture-alliance/A. Widak

Jede israelische High School schickt ihre Schüler auf eine Reise nach Polen, um dort die NS-Vernichtungslager zu besuchen. Der Held Ihres Romans führt solche Gruppen. Er sieht, wie sie sich in israelische Flaggen hüllen, die israelische Nationalhymne singen und weinen. Was denken Sie über diese Reisen?

Ich habe ein Problem damit, weil sie die Geschichte verdrehen. Anstatt solche Trips in Deutschland zu beginnen, fahren sie nach Polen. Das ist ein Fehler.

Wenn man israelische Schüler fragt, wer verantwortlich für den Holocaust ist, dann wissen sie, dass es die Deutschen waren. Aber wenn man ein wenig nachfragt, besonders während dieser Reisen nach Polen, dann kommt man schnell zu dem Punkt, an dem sie die Polen dafür verantwortlich machen. Das ist historisch natürlich falsch. Es gab auch schlechte Polen, die mit den Deutschen kollaboriert und schreckliche Dinge getan haben, aber sie haben diese Sache natürlich nicht ausgelöst und geplant.

Ganz Polen war von Nazi-Deutschland besetzt. Auch viele nicht-jüdische Polen wurden im Vernichtungslager Auschwitz gefangen gehalten, gefoltert und ermordet.

Richtig, deshalb verstehen sich die Polen auch als Opfer. Weil die lange Geschichte des jüdischen Volkes in Polen aber voll von Pogromen und Verfolgung ist, sehen Juden die Polen als Kollaborateure der Nazis.

Natürlich gab es auch in Deutschland Konzentrationslager, aber die riesigen NS-Vernichtungslager, in denen die meisten Juden ermordet wurden, befanden sich in Polen. Das machten die Deutschen absichtlich, um ihr schönes Deutschland nicht zu beschmutzen. Die Drecksarbeit sollte nicht auf deutschem Boden stattfinden. Und historisch waren sie damit erfolgreich.

April 1945: Befreite Häftlinge im Konzentrationslager Bergen-BelsenBild: picture alliance/Everett Collection

Heute sehen Israelis Deutschland als Urlaubsziel. Freunde von mir fahren diesen Sommer in den Schwarzwald. Sie haben mich gefragt, ob ich nicht mit meiner Familie mitkommen möchte. Ich habe ihnen gesagt, ich werde nicht in den Familienurlaub in den Schwarzwald fahren, auch wenn es dort bestimmt schön ist und die Menschen nett. Aber man sollte es nicht übertreiben. 

Viele Israelis leben heute in Berlin. Es gibt auch etliche deutsch-israelische Liebes- und Ehepaare…

Als erstes gilt, dass die Deutschen von heute nicht verantwortlich sind. Ich möchte nicht, dass Israelis Deutsche hassen. Das ist nicht meine Intention. Aber wir sollten in Erinnerung behalten, wer auf welcher Seite stand.

Manchmal laufen Diskussionen zwischen Israelis und Deutschen so ab, dass es wirkt, als sei der Holocaust eine gemeinsame Erfahrung. Ihr wart da und wir waren da und das war ja alles so schrecklich und die Deutschen betonen, wie leid es ihnen tut, und wir akzeptieren die Entschuldigung. Das wird mir zu behaglich. Was ich in dem Buch sage ist, die Trennlinie zwischen Mördern und Opfern sollte eingehalten werden. Es ist keine gemeinsame Erfahrung. Ihr habt getötet und wir wurden ermordet. Da sollten wir Klarheit behalten.

Der Held Ihres Buches hört im Vernichtungslager israelische Schüler flüstern: "Araber, das sollte man mit den Arabern machen".

Das ist eben ein Teil des Monsters: Die Hassgefühle, dieser Wunsch nach Rache verschwinden nicht einfach. Sie richten sich nur gegen andere: gegen Polen und Araber. Die Deutschen hasst man heute nicht mehr. Das halte ich für problematisch.

Der Reiseleiter in Ihrem Buch arbeitet auch für die israelische Armee, die eine Eliteeinheit nach Polen bringen möchte, um dort symbolisch eines der Vernichtungslager zu erobern. Treiben Sie die Satire hier nicht ein bisschen weit?

Für den Staat Israel ist es sehr wichtig, nie wieder schwach zu sein, nicht von anderen abhängig zu sein. Ich glaube, dies ist bis heute das wichtigste Motiv - zur Armee zu gehen. Im Jahr 2003 absolvierte die Israelische Luftwaffe mit F15-Kampfflugzeugen einen Flug über Auschwitz, sozusagen als Bild des Sieges. Dieses Foto ist sehr berühmt und hängt in den Büros vieler Generäle.

Brisanter Roman: "Monster" von Yishai Sarid

Auch mich hat es damals mit seiner Aussage bewegt: Schau, woher wir gekommen sind und wo wir jetzt stehen. Auf der anderen Seite ist das Bild eine historische Verfälschung. Zu versuchen, einen Sieg aus dieser Tragödie zu ziehen, ist falsch. In der Gedenkstätte Auschwitz sollte man einfach schweigen und trauern, darüber was dem jüdischen Volk und der Menschheit angetan wurde. Dort gibt es keinen Sieg. Ich treibe das in meinem Buch auf die Spitze, um zu sagen: Dies sollte nicht die Lehre aus dem Holocaust sein. Geht respektvoll miteinander um und sorgt für Sicherheitsstrukturen, die verhindern, dass so etwas jemals wieder geschieht. Das erste Mal, dass man eine Person mit Gewalt festhält und ihr etwas Böses antut, ist es der Anfang vom Ende, denn wir Menschen tragen diese Grausamkeit in uns.

Israel als Deutsche zu kritisieren, ist ein sehr sensibles Thema. Wie stehen Sie dazu? Darf man als Deutscher Kritik an Israel üben?

Ich bin ein Kritiker der israelischen Besatzungspolitik der Palästinenser. Dennoch finde ich - ehrlich gesagt - nicht, dass Deutschland das richtige Land ist, den Staat Israel zu irgendetwas zu drängen oder über Menschenrechte zu belehren.

Das erwarte ich von anderen Nationen, von den USA beispielsweise, nicht aber von Deutschland. Dennoch erwarte ich von Deutschland, ehrlich mit Israel zu sein und nicht jede falsche oder unmoralische Taktik der israelischen Politik zu unterstützen.

Buchautor Yishai SaridBild: D. Tchetchik

Ich möchte nicht den Schluss Ihres Buches verraten. Aber ich denke, ich kann sagen, dass es am Ende zur Konfrontation zwischen einem deutschen Regisseur und Ihrem Protagonisten kommt.

Am Ende macht mein Mann sehr deutlich: Es reicht mit dem Blödsinn. Lasst uns endlich machen, was wir schon vor langem hätten tun sollen.

Das Interview führte Sarah Judith Hofmann in Tel Aviv.

"Monster" ist Yishai Sarids vierter Roman. Nachdem er sechs Jahre lang u.a. als Geheimdienstoffizier in der israelischen Armee gedient hatte, studierte er Jura an der Hebräischen Universität Jerusalem und an der US-amerikanischen Elite-Universität Harvard. Heute arbeitet Yishai Sarid als Rechtsanwalt in Tel Aviv. Yishai Sarid: Monster. Roman. Verlag Kein & Aber. 2019.

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