Wenn die Bühne zum Boxring wird
29. Januar 2020Die Münchner Kammerspiele sind nicht irgendein Theater: Seit seiner Gründung im Jahr 1912 ist das Haus für seine provokanten Inszenierungen bekannt. Das Neue fand hier häufig als Skandal den Weg auf die Bühne. Nicht skandalös aber dennoch völlig neu war auch das, was Mitte Januar unter dem Namen "Friendly Confrontations - eine Boxveranstaltung" aufgeführt wurde: die Bühne ein Boxring, dort zu sehen, ein Ländervergleich zwischen Ghana und Deutschland, bei dem es aber um viel mehr ging als um Sport. Echte Boxkämpfe als Experimental-Theater?
Eingeleitet wird die Veranstaltung mit dem Film "Lionhearted", einer Dokumentation in Kinolänge. Eine der Hauptfiguren ist Boxtrainer Ali Cukur: Als Kind kam er vor 50 Jahren mit seinen Eltern aus der Türkei nach Deutschland. Integration ist sein Lebensthema, sein Medium der Boxsport. Auch Cukurs Schützlinge spielen eine Rolle, die Kämpferinnen und Kämpfer des TSV 1860 München, die nach der Filmaufführung auf der Bühne in den Ring steigen werden, um gegen die Boxer aus Ghana zu kämpfen.
Eine Reise zu sich selbst
Sie heißen Saskia, Raschad und Burak und sind Jugendliche und junge Erwachsene aus München. Der Film zeigt, dass sie es nicht leicht haben in ihrem Leben in Deutschland. Doch bei einem Trainingsaufenthalt in der ghanaischen Hauptstadt Accra wird ihnen vor Augen geführt, wie viel besser sie es im Vergleich mit ihren Altersgenossen aus Ghana haben. Die Konfrontation mit den harten Bedingungen in den Slums löst bei den Jugendlichen aus Deutschland eine tiefgründige Reflektion mit sich und dem Leben aus. Die Reise nach Westafrika wird eine Reise zu sich selbst: zu Ängsten und Zerrissenheit, aber auch zu innerer Kraft und neuem Selbstwertgefühl.
"Ich bin sehr viel dankbarer geworden", sagt Saskia. "Wenn ich müde von meinem Alltag in Deutschland bin und keine Lust habe, ins Training zu gehen, dann denke ich oft daran, dass ich froh sein kann, so ein tolles Gym zu haben. Dass ich froh sein kann, ein Dach über dem Kopf zu haben." Besonders schockiert war sie von den hygienischen Bedingungen. "Es hat mir wehgetan zu sehen, wie viel Müll da überall ist, zu sehen unter welchen Umständen die Boxer trainieren müssen. Ich bin so froh, dass ich nicht auf einer Müllhalde trainieren muss. Ganz schlimm war die Luft und der unangenehme Geruch, wenn neben dem Boxgym Müll verbrannt wurde."
Die Wirklichkeit des Theaters
In den Münchner Kammerspielen ist die Luft sauber, es riecht allenfalls ein wenig nach Staub und nach dem Schweiß und Adrenalin der Kämpfer, die nach dem Film nun in den Ring steigen. Zunächst tritt Saskia gegen Miriam aus Ghana an. Eine ganz neue Inszenierung der "Ringparabel" mit echten Menschen, die mit ihrer ganz persönlichen Würde in den Ring steigen und an denen - anders als bei Lessing - die beiden Welten als "Mütter" zerren. Die erste Welt gewinnt gegen die dritte, Saskia besiegt Miriam. "Meine Gegnerin war konditionell wirklich stark", lobt Saskia nach dem Kampf. "Sie hat viel mehr Luft gehabt als ich, aber ich war ihr technisch überlegen." Plötzlich hört sich das Wort "Luft" politisch an, "technische Überlegenheit" ebenfalls.
Die fünf folgenden Begegnungen sind Männerkämpfe verschiedener Gewichtsklassen. Unter anderem muss sich der Münchner Zebair Hamidi Muhammed Huseini aus Ghana geschlagen geben. Ein starker Sieg für Muhammed - jedoch mit traurigem Beigeschmack. Wenn er nach Hause kommt, wird er wieder auf der Straße wohnen. Sein Trainer Charles Quartey von der Boxstiftung Ghana, der selbst einmal ein Straßenjunge war, bekennt: "Boxen ist ein Game Changer. Wir holen diese Jungs von der Straße und geben ihnen eine Zukunft. Ohne Bildung kommst du nicht weit!"
Quartey: "Die Jungs sind Vorbilder für andere"
Den letzten Sieg des Abends erringt Kenan Husovic für München. Husovic ist amtierender Deutscher Meister im Superschwergewicht: "Im Theater zu kämpfen ist ganz speziell", sagt er. "Die Leute waren diszipliniert. Wenn Boxen war, war Ruhe. Wenn es vorbei war, kam der Applaus. Es hat Spaß gemacht!"
Am Ende steht es 4:2 für den TSV 1860 München, BC Accora-Ghana muss sich geschlagen geben. Doch letztlich - das bestätigen beide Trainer - stehen nicht die Ergebnisse der Kämpfe im Vordergrund, sondern Themen wie Menschlichkeit, Respekt, Mitgefühl und Fairness: "Es geht nicht ums Gewinnen. Es geht darum, ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen", erklärt Charles Quartey. "Es war großartig für diese Jungs hier zu sein. Viele leben auf der Straße und jetzt sind sie in einer großen Stadt wie München. In einem großartigen Land wie Deutschland. Diese Jungs sind ein Vorbild für andere. Sie zeigen, dass man für gute Leistungen belohnt wird und herauskommt aus seinem Land", reflektiert Quartey, der selbst mehrfacher Champion in Ghana war.
Dieser Wunsch, dem Elend zu entfliehen, wurde eindrucksvoll in Szene gesetzt. Die Frage allerdings, was getan werden kann, damit diese Jugendlichen stolz auf Ghana werden, gut dort leben können und nicht mehr "herauskommen" wollen, bleibt unbeantwortet.
Träume und Ängste
Die "Friendly Confrontations" in den Kammerspielen sind passé, die Visionen von Ali Cukur und Charles Quartey noch lange nicht. Ganz gleich, ob in Ghana oder Deutschland, beide sorgen sich darum, Menschen vom Rand wieder in die Gesellschaft zu holen, Integrationsarbeit zu leisten und über Ländergrenzen hinweg für Freundschaft und Menschlichkeit zu sorgen.
"Wir fahren 2021 wieder nach Accra", verkündet Ali Cukur. "Ich möchte dort ein Sportinternat aufbauen, wo Sportler, Kinder und Jugendliche aufgenommen werden, nicht um unbedingt Boxer zu werden, sondern damit sie von der Straße wegkommen. Damit sie Perspektiven haben und sich Ziele setzen."
Konkrete Ansagen, die allerdings im grenzenlosen theatralischen Raum der Kammerspiele nicht ganz greifbar sind. Die Zukunftsträume der einen verschwimmen mit den Zukunftsängsten der anderen - und umgekehrt.
Es bleiben daher viele Fragezeichen, ob hier die experimentelle Ambition die Wirklichkeit noch fassen konnte, oder ob sie unter ihr einfach k.o. ging.