Wenn Honecker das gewusst hätte…
18. Februar 2016"Wie schläft man nachts, wenn man weiß, dass man viele Menschen quält, unmenschlich behandelt, unterdrückt und einmauert???", fragt der anonyme Absender eines Briefes, der seinen Empfänger am 25. August 1983 erreichen sollte. Es war der Tag, an dem Erich Honecker seinen 71. Geburtstag feierte. Wahrscheinlich gönnte sich der Genosse Staatsratsvorsitzender ein Glas Rotkäppchensekt. Und ließ sich vom Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) für seine angeblichen Verdienste um die DDR feiern.
Von Staatsfeinden, wie dem Briefeschreiber, ließen sich die alten Männer im Politbüro doch nicht die gute Laune verderben. Und schon gar nicht wollten sie wissen, wie jene den real existierenden Sozialismus erlebten, die unter Unfreiheit und Mangelwirtschaft litten. Und das waren Millionen.
Die Frustriertesten unter ihnen, die wohl auch die Mutigsten waren, schickten dann empörte Briefe an die DDR-Regierung. Dort kamen sie jedoch nicht an, weil der Staatssicherheitsdienst sie rechtzeitig abfing. Die Stasi hatte alle Hände voll zu tun: Rund 100.000 Postsendungen wurden täglich kontrolliert. Dabei die Spreu vom Weizen zu trennen, dürfte auch der DDR-Geheimpolizei schwer gefallen sein
Fehlende Ersatzteile, fehlende Wohnungen, fehlende Freiheit
Von den vielen Wutbriefen hat der Politikwissenschaftler Siegfried Suckut jetzt 248 für sein bei "dtv" erscheinendes Buch "Volkes Stimmen" ausgewählt und in Berlin vorgestellt. Der Herausgeber ist vom Fach, er war bis 2005 Abteilungsleiter Bildung und Forschung in der Stasi-Unterlagen-Behörde. Im Aktenfundus seines früheren Arbeitgebers sichtete der inzwischen pensionierte Politikwissenschaftler rund 45.000 Seiten. Das meiste stammt aus der Abteilung 2 der Hauptabteilung XX. Die hatte den Auftrag, sogenannte staatsfeindliche Erscheinungen aufzuklären und nach Möglichkeit zu verhindern.
Suckut wollte wissen, warum Menschen Briefe an die DDR-Herrscher schrieben. Die Motive waren vielfältig. Inhalt und Form changierten zwischen ehrlicher Sorge um die Zustände in der DDR und blankem Hass auf das Regime.
"Da setzen sich Leute hin, nachdem sie sich lange geärgert haben." Ärger, weil sie keine Wohnung erhielten, im volkseigenen Betrieb keine Ersatzteile für Maschinen bekamen oder in der Kaufhalle vor leeren Regalen standen. Das ganz große Thema aber war die fehlende politische Freiheit. Breit gestreut war auch das Spektrum der Absender: besorgte Familien, Arbeitskollektive, Alt-Kommunisten, Neo-Nazis.
Manche Briefe waren an Politiker im Westen adressiert
Und weil Suckut bei seinen Recherchen keinen einzigen der Briefe im Bundesarchiv gefunden hat, steht für ihn fest: "Die hat Honecker wirklich nicht in der Hand gehabt." Das gilt natürlich erst recht für Politiker im Westen, an die auch immer wieder Briefe geschickt wurden, die nie ankamen. Unter den verhinderten Empfängern waren Kanzler Willy Brandt (SPD), Bundespräsident Richard von Weizsäcker, aber auch Bayerns Ministerpräsident Franz-Josef Strauß. Der CSU-Chef hatte der wirtschaftlich maroden DDR Anfang der 1980er Jahre zu einem Milliarden-Kredit verholfen.
Ein Brief des bekannten DDR-Oppositionellen Rainer Eppelmann findet sich nicht in dem Buch, obwohl der spätere Bundestagsabgeordnete nach eigenen Angaben mehrere verfasst hat. Als langjähriger Vorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ist ihm das Erscheinen von "Volkes Stimmen" eine Herzensangelegenheit. Er stellte dafür seine Räumlichkeiten im Berliner Regierungsviertel zur Verfügung. Bei dieser Gelegenheit erzählte er von seinem an Honecker gerichteten Brief, nachdem das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" über den Japan-Besuch des Staatschefs berichtet hatte. Er habe Honecker dazu beglückwünscht, "dass er diese wunderbare Erfahrung machen konnte" und gefragt, "wann er denn gedenkt, sie allen 17 Millionen DDR-Menschen möglich zu machen".
Eppelmann: "Fanal des Protests gegen die alltägliche Lüge"
Natürlich hat Eppelmann keine Antwort erhalten. Honecker hat ja auch diesen Brief nie zu Gesicht bekommen. Dass dem so war, konnten die Absender nicht wissen, höchstens ahnen. Eppelmann erlebte sein Verhalten damals wie eine "kleine Explosion". Der Frust über die Zustände in der DDR musste raus. Nun kann man ihn bei der Lektüre von "Volkes Stimmen" nachlesen. Eingebettet in den gesellschaftlichen Kontext, kritisch kommentiert und mit einem ausführlichen Register versehen. Eppelmann nennt das Buch ein "Fanal des Protests gegen die alltägliche Lüge und Unmenschlichkeit".