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Wenn Schutzwände fehlen

26. Mai 2009

Hunderttausende sind vor den Kämpfen im pakistanischen Swat-Tal geflohen. In den Flüchtlingslagern, in denen sie eine provisorische Bleibe gefunden haben, müssen die Frauen besonders leiden.

Geflüchtete Großfamilie aus dem Swat-TalBild: AP

Rehana verbirgt ihr Gesicht hinter einem Schleier. Sie ist nie zur Schule gegangen und kann weder lesen noch schreiben, war noch nie von zu Hause weg. Sie fühlt sich entblößt in dem offenen Zelt, in dem sie jetzt leben muss. Das 15-jährige Mädchen kannte bis vor wenigen Tagen nur ihr kleines Dorf im umkämpften Distrikt Buner in Pakistans nordwestlicher Grenzprovinz.

Seit Rehana eine junge Frau ist, kennt sie eigentlich nur noch den Hof ihrer Familie, der von hohen Lehmmauern umschlossen ist. Sie ist nach den Regeln der Purdah erzogen worden, und die sieht ein Leben mit strikter Geschlechtertrennung vor. Doch jetzt fehlen die hohen Wände als trennender Vorhang. Rehana und die anderen Frauen sind den Blicken fremder Männer ausgeliefert. Sie fühlen sich nackt und beschmutzt.

Dicht an dicht drängen sich die Zelte im Flüchtlingslager. An Privatsphäre ist hier nicht zu denken.Bild: AP

Gefangen im Zelt

Es ist unerträglich heiß im Zelt. Rehana, ihrer Mutter und ihren Tanten rinnt der Schweiß über das Gesicht. Die älteren Frauen wedeln den Babys und Kleinkindern Luft zu, sie geben ihnen zu trinken, aber selber trinken sie nichts. Sie haben Angst davor, zur Toilette zu gehen, Angst davor, trotz des provisorischen Sichtschutzes auf der Massenlatrine gesehen zu werden. Die Frauen trinken so wenig wie möglich, um so wenig wie möglich das Zelt verlassen zu müssen, ihren letzten Schutz. Vom Himmel brennt die Sonne mit fast 45 Grad erbarmungslos auf das Zelt nieder, zwischen den Plastikwänden steht die Hitze. Immer wieder brechen Frauen in dem riesigen Zeltlager zusammen, weil sie komplett ausgetrocknet sind.

Entwurzelt im eigenen Land

In Rehanas Zelt leben insgesamt 15 Menschen. Bis auf zwei heranwachsende Söhne nur Frauen und Kleinkinder. Die jungen Männer stehen irgendwo im Lager Schlange, um Wasser und Essen zu holen. Die erwachsenen Männer der Großfamilie sind nach Hause zurückgekehrt, um das kostbare Vieh zu versorgen und die Weizen-Ernte einzuholen. Es ist alles, was die Familie noch hat. "Uns hat niemand gefragt. Wir sind gezwungen, hier zu leben. Wo sollen wir denn hin?", ereifern sich die Frauen: "Wir müssen hier leben, ganz egal, wie. Seit die Armee den Krieg angefangen hat, haben wir keine andere Wahl."

Sie erzählen von ihrer Flucht aus Buner, von den Kampfhubschraubern und den Luftangriffen, vor denen sie weggelaufen sind. Über die Taliban fällt kein böses Wort. Die Frauen wissen nicht, worum es in diesem Krieg geht. Aber sie haben alle gesehen, wie Menschen gestorben sind, von Mörsern zerrissen und von Kugeln zerfetzt.

In den Flüchtlingslagern drängen sich auch viele Kinder auf engstem Raum.Bild: picture alliance / landov

Verlorene Intimsphäre

"Der Krieg soll aufhören. Wir wollen nach Hause, einfach nur nach Hause. Alles soll wieder so werden wie früher." Die junge Frau, die das so schlicht und flehentlich sagt, wiegt ein wimmerndes Kind im Arm. Sie hat schrecklichen Hautausschlag, Krätze vom ewig rinnenden Schweiß. Die Scheu vor dem Gang zum öffentlichen Wassertank, die Panik davor, sich richtig zu waschen und beobachtet zu werden, machen das Leben im Lager unerträglich. Auch der Gang zum Arzt kommt nicht in Frage, weil er ein Mann ist. Für die junge Frau ist es unvorstellbar, dass sie sich von ihm untersuchen lässt.

Moralkodex trifft auf Flüchtlingschaos

Verschleierte paschtunische FrauenBild: picture-alliance/dpa

In den Flüchtlingslagern im Nordwesten Pakistans prallen die Kultur und Tradition der Paschtunen auf die Wirklichkeit des Krieges und der Massenflucht. Fast alle der rund 1,5 Millionen Menschen, die seit Anfang Mai aus den umkämpften Distrikten Swat, Dir und Buner geflohen sind, sind Paschtunen. Deren Gesellschaft ist streng patriarchalisch strukturiert und folgt einem extrem konservativen Sitten- und Ehrenkodex. Das Siedlungsgebiet der Paschtunen wird von der afghanisch-pakistanischen Grenzen zerschnitten. In beiden Ländern sind die Taliban aus dieser Volksgruppe entstanden.

Mit der Geschlechtsreife verschwinden die Mädchen gerade in den ländlichen Gebieten komplett aus der Öffentlichkeit. Das weitere Leben spielt sich im Wesentlichen im Haus des Vaters und später im Haus des Ehemannes ab. Das Lagerleben, auf engstem Raum mit 15.000 anderen Menschen, Zelt an Zelt, ohne Privatssphäre, ist für alle schlimm. Aber für die Mädchen und Frauen kommt erschwerend hinzu, dass auf einmal richtig sein muss, was früher unsittlich und falsch war. Ihr ganzes Weltbild steht auf dem Kopf. Die Verstörung ist groß.

Zwischen Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung

Shamim Ara aus dem besonders heftig umkämpften Swat-Tal betet für den Frieden. Sie betet für zu Hause. Sie ist Witwe und vielfache Mutter und Großmutter. Sie betet für ihre Söhne, die zu Hause geblieben sind, um auf Hab und Gut aufzupassen. Shamim weiß nicht, ob sie noch leben. "Ich bin dabei, den Verstand zu verlieren," sagt sie: "Wann hört das endlich auf?" Die alte Frau bricht unter Tränen zusammen. Die umstehenden Männer schweigen betroffen. Viele haben selber Tränen in den Augen. Im Nordwesten Pakistans deutet nichts auf ein schnelles Ende der Kämpfe hin. Die Frauen werden lernen müssen, öffentlich und ohne Purdah zu leben und zu leiden.

Autorin: Sandra Petersmann

Redaktion: Thomas Latschan