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PolitikEuropa

Wer erschoss die Arbeiter von Wujek?

Katarzyna Domagala-Pereira
29. Dezember 2021

Vor 40 Jahren wurden im polnischen Bergwerk Wujek neun Bergleute getötet. Polizist Jan P. gab acht Schüsse ab. Obwohl Polens Staatsanwaltschaft seine Auslieferung fordert, führt er heute ein ruhiges Leben in Deutschland.

Polen Kattowitz Beginn des Kriegsrechts
Ein Panzer, Soldaten und ein Verletzter vor der Zeche Wujek am 16. Dezember 1981Bild: PAP/picture alliance

Am 16. Dezember 1981 gibt Jan P. acht Schüsse ab. Das schreibt er in einem Protokoll nach der Niederschlagung des Streiks im oberschlesischen Steinkohlebergwerk Wujek. Damals gehört P. den "Motorisierten Reserven der Bürgermiliz" (ZOMO) an, einer Sondereinheit der Polizei während der kommunistischen Diktatur in Polen (1944-89).

Heute führt Jan P. ein ruhiges Leben in einer kleinen Stadt bei Dortmund. Seit über 30 Jahren lebt er in Deutschland. Ende der 1980er zieht auch sein Ex-ZOMO-Kollege Roman R. dorthin. Der wird 2019 in Kroatien aufgrund eines Europäischen Haftbefehls verhaftet und der polnischen Justiz übergeben. Nach seinem Prozess wird auch Jan P. erneut mit Europäischem Haftbefehl gesucht.

16. Dezember 1981: Polizei und Armee setzen Tränengas und Blendgranaten gegen streikende Arbeiter einBild: Marek Janicki/PAP/picture alliance

Sonntag, 13. Dezember 1981. Als die Bergleute der Nachtschicht erfahren, dass Jan Ludwiczak, der Vorsitzende der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc in Wujek, verhaftet wurde, weiß noch niemand, dass das Kriegsrecht verhängt worden ist. Erst gegen sechs Uhr morgens strahlt das Betriebsradio die Rede des Machthabers, General Wojciech Jaruzelski, aus. Die Zeche wird, wie hunderte andere Betriebe, der Armee unterstellt, Solidarnosc wird verboten.

Die Arbeiter beschließen zu streiken. "Wir stellten unsere Forderungen: Die Freilassung von Jan Ludwiczak, keine Konsequenzen für die Streikenden, das Ende des Kriegsrechts und die Freilassung aller politischen Gefangenen", erinnert sich Stanislaw Platek, damals Vorsitzender des Streikkomitees. Die Firmenleitung warnt vor den Folgen. Einige Arbeiter verlassen die Zeche, andere bleiben.

Angriff der Polizei

Boguslaw Kopczak etwa will weiterkämpfen. "Meine Mutter fuhr jeden Tag vor das Werkstor, brachte Essen und versuchte meinen Vater zu überreden, nach Hause zu kommen. Aber er wollte nicht. Er sagte mehrmals: Einer für alle, alle für einen", erzählt seine Tochter Katarzyna im Gespräch mit der DW. Ihr Vater ändert seine Meinung auch dann nicht, als am 15. Dezember Schüsse in einer anderen Zeche fallen und vier Arbeiter verwundet werden.

Die streikenden Bergleute verteidigen sich mit Schrauben, Muttern und Steinen gegen Polizei und MilitärBild: Marek Janicki/PAP/picture alliance

"Die Angst war spürbar in der Nacht vom 15. auf den 16. Dezember. Die Polizei tat alles, um uns einzuschüchtern", erinnert sich Streikkomitee-Vorsitzender Platek. Für die Wujek-Bergleute ist klar, dass jetzt ihre Zeche an der Reihe ist. Einige der Streikenden verbringen die Nacht in der Werkstatt des Bergwerks und bereiten einfache Waffen vor: Stangen, Keile, Kabel. Am Morgen wird das Zechengelände von Polizisten abgeriegelt. Wenig später trifft die Armee ein. Der Angriff beginnt.

Tödliche Schüsse

Mit Wasserwerfern werden die vor dem Haupttor versammelten Menschen auseinandergetrieben, ein Panzer rammt die Mauer, bewaffnete ZOMO-Angehörige dringen auf das Zechengelände vor. Die Streikenden verteidigen sich, werfen mit Schrauben, Muttern, Steinen. Gegen 12:30 Uhr fallen die ersten Schüsse. Neun Bergleute werden getötet, 23 verletzt. Der Tag wird als die größte Tragödie während des Kriegsrechts in die polnische Geschichte eingehen.

Die Beerdigung von Boguslaw KopczakBild: Arch. Katarzyna Kopczak

Unter den Toten ist auch Boguslaw Kopczak. Als er stirbt, ist seine Tochter Katarzyna zweieinhalb Jahre alt. "Ich meine mich zu erinnern, dass mich Mama auf dem Arm trug, als Papa im Sarg lag, und dass ich sagte, sein Haar sei auf die falsche Seite gekämmt", erinnert sie sich, "aber weil ich so klein war, weiß ich nicht, ob das wirklich meine Erinnerung ist oder eine Kombination aus Erzählungen Anderer".

Prügel für Verletzte

Die offiziellen Informationen über die Tragödie, bei der ihr Vater ums Leben kam, reichen der Tochter nicht. Jahre später liest sie Akten über die "Befriedung" von Wujek. Dort steht, dass verletzte Bergleute aus Krankenwagen gezogen und verprügelt wurden. Katarzyna Kopczak ist schockiert.

Briefmarken zur Erinnerung an die neun Bergmänner, die am 16.12.1981 in der Zeche Wujek erschossen wurdenBild: Śląskie Centrum Wolności i Solidarności w Katowicach

Eine Kugel trifft den Streikkomitee-Vorsitzende Stanislaw Platek in die Schulter. Auf dem Weg ins Krankenhaus wird er verhaftet und im Februar 1982 zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Auch andere Bergleute werden für ihre Beteiligung am Streik bestraft.

In die Luft geschossen?

Erst nach der Wende in Polen beginnt die Staatsanwaltschaft in Kattowitz im Oktober 1991 mit der Untersuchung der "Befriedung" von Wujek. Im März 1993 läuft der erste Prozess gegen die Verantwortlichen für den Tod der neun Bergleute an. Weitere Verfahren folgen 1999, 2004 und 2019.

Heute erinnert ein Kreuz vor der Zeche an die Tragödie von Wujek 1981 Bild: Michal Dubiel/Eastnews/imago images

"Bei allen Prozessen bestand die Schwierigkeit der Beweisführung darin, dass alle Mitglieder des Sonderkommandos dieselbe Verteidigungslinie einnahmen und behaupteten, in die Luft geschossen zu haben", sagt Staatsanwalt Dariusz Psiuk von der Ermittlungsabteilung des Instituts des Nationalen Gedenkens in Kattowitz der DW: "Bei dem Angriff waren Tränengas und Blendgranaten im Einsatz. Die ZOMO-Männer waren vermummt, so dass kein Zeuge genau sagen konnte, wer geschossen hat."

Symbolische Strafen

Die polnische Militärstaatsanwaltschaft, die 1981-1982 Beweise aufgenommen hatte, war nicht an einer Aufklärung der Tragödie interessiert. "Damals wurden nur ganz wenige Patronenhülsen sichergestellt und keine ballistischen Tests durchgeführt, um festzustellen, mit welcher Waffe die Hülsen abgefeuert wurden", erklärt der heute zuständige Staatsanwalt Dariusz Psiuk.

Protest am 30. Jahrestag der Tragödie von Wujek vor dem Haus von General Jaruzelski in Warschau im Dezember 2011 Bild: Wojtek Radwanski/AFP/Getty Images

2008 werden ein ZOMO-Kommandant und vierzehn Mitglieder des Sonderkommandos, das in Wujek eingesetzt worden war, verurteilt - zu zwischen dreieinhalb und sechs Jahren Haft. "Es sind symbolische Strafen. Aber für mich ist das Wichtigste, dass ihre Taten als Verbrechen anerkannt wurden", sagt Katarzyna Kopczak. "Die Verantwortlichen für das Kriegsrecht wurden dagegen nie verurteilt. Man hat damit so lange gewartet, bis sie gestorben sind", beklagt sie.

Ein neues Leben in Deutschland

Noch vor Beginn der Prozesse gegen ihre Ex-Kollegen verlassen Roman R. und Jan P. - beide mittlerweile Anfang dreißig - Ende der 1980er Jahre Polen und beginnen ein neues Leben in Deutschland. Roman R. gibt gar die polnische Staatsbürgerschaft auf und nimmt den deutsch klingenden Mädchennamen seiner Frau an. Von nun an ist er Roman S. Auch Jan P. wird Deutscher, behält aber seinen polnischen Pass.

Die Zeche Wujek heuteBild: Kamila Stepien/Le Pictorium/ZUMA/picture alliance

Die Akten zu Wujek enthalten die Berichte, die die beiden damaligen ZOMO-Männer nach dem Angriff geschrieben haben. Roman S. gibt an, er habe von seiner Waffe Gebrauch gemacht, indem er vier Schüsse in die Luft abgab; bei Jan P. sind es acht. Beide behaupten, bedroht worden zu sein. Dem Bericht zufolge gaben die ZOMO-Leute in Wujek 156 Schüsse ab.

Die verweigerte Auslieferung

Alle Versuche, Roman S. und Jan P. nach Polen zu holen, scheitern. In den 1990er Jahren und nach 2004 verweigert Deutschland die Auslieferung, die entsprechenden Verfahren werden eingestellt. Der Grund sind die Tatvorwürfe, die nach polnischem Strafrecht zuerst nur als "Beteiligung an einer Schlägerei" und "Körperverletzung mit Todesfolge" formuliert sind, später noch zusätzlich als "kommunistische Verbrechen".

"Die deutschen Justizbehörden waren und sind der Ansicht, dass die Vorwürfe gegen die ehemaligen Polizisten verjährt sind, da es im deutschen Recht kein kommunistisches Verbrechen gibt, das den Ansatz der Verjährung ändern würde", erklärt Staatsanwalt Psiuk. Dass Roman S. 2019 doch in die Hände der polnischen Justiz gerät, ist einem Zufall zu verdanken: Bei einer Straßenkontrolle in Kroatien bemerken die dortigen Polizisten, dass er mit einem Europäischen Haftbefehl gesucht wird. Der Ex-Polizist wird nach Polen ausgeliefert und dort zu einer Haftstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt.

Verjährung nach deutschem Recht

Während des Prozesses wird auch der Fall von Jan P., der sich noch nie vor einem Gericht verantworten musste, aufgerollt. Im August 2020 erlässt ein polnisches Gericht erneut einen Europäischen Haftbefehl gegen ihn. Und wieder lehnt es die deutsche Staatsanwaltschaft ab, Jan P. auszuliefern. Er wird nicht einmal verhört. Man verweist auf das deutsche Recht - und damit auf die Verjährung der Tatvorwürfe.

DW hat versucht, Jan P. zu erreichen. "Es ist unmöglich, ihn zu sprechen, er ist krank und seit einem Jahr in Therapie. Er ist nicht zu Hause", sagt auf Polnisch eine Frau, die behauptet, seine Schwiegertochter zu sein. Danach geht mehrere Wochen lang niemand mehr ans Telefon.

Für Staatsanwalt Dariusz Psiuk ändert das nicht viel. Im Jahr 2020 trat in Polen das novellierte "Gesetz über das Institut des Nationalen Gedenkens - Kommission für die Verfolgung von Verbrechen gegen das Polnische Volk" in Kraft. Seitdem verjähren Straftaten, die unter der kommunistischen Diktatur begangen wurden, nicht mehr. "Das gilt auch für unsere Vorwürfe gegen Jan P.", betont Psiuk.

Katarzyna Domagala-Pereira Journalistin und Publizistin, stellvertretende Leiterin von DW-Polnisch.