Wie übersetzt man DDR?
6. September 2009Was genau unterrichtete man im Unterrichtsfach "Staatsbürgerkunde" in der DDR? Womit könnte man die heute längst verschwundene Ost-Apfelsorte der "Gelben Köstlichen" vergleichen? Und wer waren eigentlich noch mal "Pittiplatsch" und "Schnatterinchen" aus der beliebten Kindersendung vom Sandmann? Das alles sind DDR-Insidercodes aus Uwe Tellkamps Roman Der Turm, die selbst westdeutsche Leser nicht immer auf Anhieb verstehen. Am Übersetzer-Kollegium in Straelen an der niederländischen Grenze wurde über solche Namen und Begriffe erst recht lange debattiert. Denn hier traf Turm-Autor Tellkamp auf elf internationale Übersetzer aus neun europäischen Ländern, um mit ihnen Seite für Seite noch einmal seine erfolgreiche Dresdener Familien-Saga durchzugehen, die 2008 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde.
Nicht nur Worte, sondern eine ganze Welt
Einen Roman zu übersetzen, heißt mehr als nur Vokabeln auszutauschen. Es bedeutet auch und vor allem: einen Ideenkosmos und ein bestimmtes Lebensgefühl mitzuerfassen, um beides angemessen in eine andere Lebenswelt übertragen zu können. Tellkamps DDR-Epos Der Turm, das die letzten sieben Jahre vor dem Mauerfall beschreibt, erschwert diese an sich schon schwierige Übersetzer-Aufgabe zusätzlich. Wechselt dieser Roman, in dessen Zentrum der Werdegang einer hoch gebildeten, wohlhabenden Dresdener Arztfamilie steht, doch ständig zwischen verschiedenen Milieus hin und her. Hier muss man sich als Übersetzer dann nicht nur mit DDR-Ausdrücken auskennen, sondern auch noch mit medizinischem Fachvokabular, Militärjargon und dem sächsischen Dialekt vertraut sein.
Besondere Sprachhürde Sächsisch
"Warum gab es die Wiedervereinigung?", fragte Turm-Autor Uwe Tellkamp am Konferenztisch in Straelen seine elf Übersetzer scherzhaft. Tellkamps schmunzelnde Antwort: "Damit Sie alle jetzt Sächsisch übersetzen müssen!" Wie aber übersetzt man einen Mundart-Ausdruck wie "Butterbemme" auf Norwegisch, Schwedisch, Bulgarisch, Französisch oder Spanisch? Das, da war sich die Runde schnell einig, muss jeder Übersetzer für sich selbst entscheiden. Einige lassen so ein Wort unübersetzt im Text stehen. Andere – wie der norwegische Teilnehmer Isak Rodge – erfinden durch "Konsonanten-Verdickung" sogar ein eigenes, umgangssprachliches Deutsch. Sächsisch aber einfach nur durch einen anderssprachigen Landesdialekt auszutauschen, ist für einen Übersetzer strikt tabu.
Osteuropäische Leser wissen mehr
Der Turm erzählt vom Zusammenbruch der DDR, der weniger ein spektakulärer Sturz als ein langsames Zerbröckeln war. Hier herrscht noch die bleierne Zeit des Kalten Krieges. Und es regiert die ebenso bürokratische wie brutale Ein-Parteien-Diktatur der SED, die osteuropäische Leser aufgrund ihrer eigenen Erfahrung besser nachfühlen können als Westeuropäer, glaubt zumindest Ljubomir Iliev aus Sofia. Wegen ihrer ähnlichen Geschichte prophezeit der bulgarische Übersetzer dem Roman Der Turm in ehemals kommunistischen Staaten einen großen Erfolg. "Diese DDR-Version der Buddenbrooks", so Iliev, "erzählt uns auch unsere eigene Geschichte."
Gewitzter Widerstand im Privaten statt großer Protest
Für das westeuropäische Ausland ist Der Turm wohl eher als allgemeine Polit-Parabel interessant, die literarisch eine neue Perspektive auf die DDR eröffnet. Denn anders als manche deutschen Romane zum Thema, degradiert Tellkamps 945-Seiten-Epos den ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat nicht zur Witznummer – und er rechnet auch nicht ideologisch mit ihm ab. Im Turm gibt es weder eine klare Trennlinie zwischen "guten" DDR-Widerständlern und "bösen" DDR-Parteigängern noch die Beschwörung des großen politischen Protests. Stattdessen sind es hier der Rückzug auf eine deutsche Bildungstradition und der Ungehorsam im Privaten, die das Alltagsleben im sozialistischen Überwachungsstaat erträglich machen.
Eine literarisch neue Perspektive auf die DDR
Ein ironischer Umgang mit der DDR-Staatsmacht, ohne dass man sich mit ihr anlegen würde: Dieses Rezept machte auch schon die beiden Filme Das Leben der Anderen und Good bye, Lenin! im westeuropäischen Ausland erfolgreich. Nach Ansicht des französischen Übersetzers Olivier Mannoni besticht Tellkamps Turm durch eine ähnliche Art intelligenten Humors, der beweist, dass Humanität keine Frage der politischen Haltung oder Machtposition ist. Und das, so Mannoni, könnte sogar den Franzosen gefallen, die sich ansonsten nicht besonders für die DDR und den Mauerfall interessieren. "Tellkamp zeigt uns im Turm, dass die Guten nicht unbedingt die Guten und die Schlechten nicht unbedingt die Schlechten sind", meint Mannoni. "Und er erzählt, dass man auch innerhalb des SED-Regimes moralisch anständig leben konnte, das mag der französische Leser seit Balzac."
Autorin: Gisa Funck
Redaktion: Gabriela Schaaf